Zugleich freue ich mich darüber, dass ich dieses Rednerpult teilen darf mit unserem norwegischen Nachbarn Jens Stoltenberg, der inmitten eines tiefgehenden Unglücks seiner Nation uns und allen Europäern ein wegweisendes Beispiel gegeben hat an unbeirrbarer rechtsstaatlicher, liberaler und demokratischer Führung.
Als inzwischen sehr alter Mann denkt man naturgemäß in langen Zeiträumen – sowohl nach rückwärts in der Geschichte als ebenso nach vorwärts in die erhoffte und erstrebte Zukunft. Gleichwohl habe ich vor einigen Tagen auf eine sehr einfache Frage keine eindeutige Antwort geben können. Wolfgang Thierse hatte mich gefragt: „Wann wird Deutschland endlich ein normales Land?“ Und ich habe geantwortet: In absehbarer Zeit wird Deutschland kein „normales“ Land sein. Denn dagegen steht unsere ungeheure, aber einmalige historische Belastung. Und außerdem steht dagegen unsere demografisch und ökonomisch übergewichtige Zentralposition inmitten unseres sehr kleinen aber vielfältig nationalstaatlich gegliederten Kontinents.
Damit bin ich aber bereits mitten in dem komplexen Thema meines Vortrags: Deutschland in und mit und für Europa.
Motive und Ursprünge der Europäischen Integration
Auch wenn in einigen wenigen der rund 40 Nationalstaaten Europas das heutige Nation-Bewusstsein sich erst verspätet entfaltet hat – so in Italien, in Griechenland und in Deutschland – so hat es doch überall und immer wieder blutige Kriege gegeben. Man kann diese europäische Geschichte – von Mittel-Europa aus betrachtet – auch auffassen als eine schier endlose Folge von Kämpfen zwischen Peripherie und Zentrum und umgekehrt zwischen Zentrum und Peripherie. Dabei blieb das Zentrum immer wieder das entscheidende Schlachtfeld.
Wenn die Herrscher, die Staaten oder die Völker im Zentrum Europas schwach waren, dann stießen ihre Nachbarn aus der Peripherie in das schwache Zentrum vor. Die größte Zerstörung und die relativ größten Verluste an Menschenleben gab es im ersten 30-jährigen Krieg 1618 bis 1648, der sich im Wesentlichen auf deutschem Boden abgespielt hat. Deutschland war damals lediglich ein geographischer Begriff, unscharf definiert allein durch den deutschen Sprachraum. Später kamen die Franzosen unter Louis XIV und abermals unter Napoleon. Die Schweden sind nicht ein zweites Mal gekommen; wohl aber mehrfach die Engländer und die Russen, beim letzten Mal unter Stalin.
Wenn aber die Dynastien oder die Staaten im Zentrum Europas stark waren - oder wenn sie sich stark gefühlt haben! - dann sind sie umgekehrt gegen die Peripherie vorgestoßen. Das galt bereits für die Kreuzzüge, die gleichzeitig Eroberungszüge waren, nicht nur in Richtung Kleinasien und Jerusalem, sondern ebenso in Richtung Ostpreußen und in alle drei heutigen baltischen Staaten. In der Neuzeit galt es für den Krieg gegen Napoleon - und es galt für die drei Kriege Bismarcks 1864, 1866, 1870/71.
Das Gleiche gilt vor allem für den zweiten dreißigjährigen Krieg von 1914 bis 1945. Es gilt insbesondere für Hitlers Vorstöße bis an das Nordkap, bis in den Kaukasus, bis auf das griechische Kreta, bis nach Südfrankreich und sogar bis nach Tobruk nahe der libysch-ägyptischen Grenze. Die Katastrophe Europas, durch Deutschland provoziert, schloss die Katastrophe der europäischen Juden und die Katastrophe des deutschen Nationalstaats ein.
Zuvor hatten aber die Polen, die baltischen Nationen, die Tschechen, die Slowaken, die Österreicher, die Ungarn, die Slowenen und Kroaten das Schicksal der Deutschen geteilt, insofern sie alle seit Jahrhunderten unter ihrer geopolitisch zentralen Lage in diesem kleinen europäischen Kontinent gelitten haben. Oder anders gesagt: Mehrfach haben wir Deutschen andere unter unserer zentralen Machtposition leiden lassen.
Heutzutage sind die konfligierenden territorialen Ansprüche, die Sprach- und Grenzkonflikte, die noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Bewusstsein der Nationen eine sehr große Rolle gespielt haben, de facto weitgehend bedeutungslos geworden, jedenfalls für uns Deutsche.
Während im Bewusstsein der öffentlichen Meinung und in der veröffentlichten Meinung in den Nationen Europas die Kenntnis und die Erinnerung der Kriege des Mittelalters weitgehend abgesunken sind, so spielt jedoch die Erinnerung an die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und an die deutsche Besatzung immer noch eine latent dominierende Rolle.
Für uns Deutsche scheint mir entscheidend zu sein, dass fast alle Nachbarn Deutschlands – und außerdem fast alle Juden auf der ganzen Welt - sich des Holocaust und der Schandtaten erinnern, die zur Zeit der deutschen Besatzung in den Ländern der Peripherie geschehen sind. Wir Deutschen sind uns nicht ausreichend im Klaren darüber, dass bei fast allen unseren Nachbarn wahrscheinlich noch für viele Generationen ein latenter Argwohn gegen die Deutschen besteht.
Auch die nachgeborenen deutschen Generationen müssen mit dieser historischen Last leben. Und die heutigen dürfen nicht vergessen: Es war der Argwohn gegenüber einer zukünftigen Entwicklung Deutschlands, der 1950 den Beginn der europäischen Integration begründet hat.
Churchill hatte 1946 zwei Motive, als er in seiner großen Züricher Rede die Franzosen aufgerufen hat, sich mit den Deutschen zu vertragen und mit ihnen gemeinsam die Vereinigten Staaten Europas zu begründen: Nämlich erstens die gemeinsame Abwehr der als bedrohlich erscheinenden Sowjetunion - aber zweitens die Einbindung Deutschlands in einen größeren westlichen Verbund. Denn Churchill sah weitsichtig die Wiedererstarkung Deutschlands voraus.
Als 1950, vier Jahre nach Churchills Rede, Robert Schuman und Jean Monnet mit dem Schuman-Plan für den Zusammenschluss der westeuropäischen Schwerindustrie hervorgetreten sind, geschah dies aus dem gleichen Motiv, aus dem Motiv der Einbindung Deutschlands. Charles de Gaulle, der zehn Jahre später Konrad Adenauer die Hand zur Versöhnung geboten hat, hat aus dem gleichen Motiv gehandelt.
All dies geschah aus realistischer Einsicht in eine als möglich erachtete und zugleich befürchtete künftige Entwicklung deutscher Stärke. Nicht der Idealismus Victor Hugos, der 1849 zur Vereinigung Europas aufgerufen hat, noch irgendein Idealismus stand 1950/52 am Beginn der damals auf Westeuropa beschränkten europäischen Integration. Die damals führenden Staatsmänner in Europa und in Amerika (ich nenne George Marshall, Eisenhower, auch Kennedy, vor allem aber Churchill, Jean Monnet, Adenauer und de Gaulle oder auch de Gasperi und Henri Spaak) handelten keineswegs aus Europa-Idealismus, sondern aus Kenntnis der bisherigen europäischen Geschichte. Sie handelten aus realistischer Einsicht in die Notwendigkeit, eine Fortsetzung des Kampfes zwischen Peripherie und deutschem Zentrum zu vermeiden. Wer dieses Ursprungsmotiv der europäischen Integration, das immer noch ein tragendes Element ist, wer dies nicht verstanden hat, dem fehlt eine unverzichtbare Voraussetzung für die Lösung der gegenwärtig höchst prekären Krise Europas.
Je mehr im Laufe der 1960er, der 70er und 80er Jahre die damalige Bundesrepublik ökonomisch, militärisch und politisch an Gewicht zugenommen hat, um so mehr wurde in den Augen der westeuropäischen Staatslenker die europäische Integration zu einer Rückversicherung gegen eine abermals denkbare machtpolitische Verführbarkeit der Deutschen. Der anfängliche Widerstand z.B.Margret Thatchers oder Mitterands oder Andreottis 1989/90 gegen eine Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten war eindeutig begründet in der Besorgnis vor einem starken Deutschland im Zentrum dieses kleinen europäischen Kontinents.
Ich erlaube mir an dieser Stelle einen kleinen persönlichen Exkurs. Ich habe Jean Monnet zugehört, als ich an Monnet’s Komitee „Pour les États-Unis d’Europe“ beteiligt war. Das war 1955. Für mich ist Jean Monnet einer der weitestblickenden Franzosen geblieben, die ich in meinem Leben kennengelernt habe – in Sachen Integration übrigens auch wegen seines Konzepts des schrittweisen Vorgehens bei der Integration Europas.
Ich bin seither aus Einsicht in das strategische Interesse der deutschen Nation, nicht aus Idealismus, ein Anhänger der europäischen Integration, ein Anhänger der Einbindung Deutschlands geworden und geblieben. (Das hat mich damals zu einer für Kurt Schumacher ganz belanglosen, für mich aber, damals gerade 30 Jahre alter Kriegsheimkehrer, zu einer sehr ernst zu nehmenden Kontroverse mit meinem von mir hoch verehrten Parteivorsitzenden geführt.) Es hat mich in den 1950er Jahren zur Bejahung der Pläne des damaligen polnischen Außenministers Rapacki geführt. Zu Beginn der 60er Jahre habe ich dann ein Buch gegen die offizielle westliche Strategie der nuklear-strategischen Vergeltung geschrieben, die damals von Seiten der NATO der mächtigen Sowjetunion angedroht wurde, in die wir damals wie auch heute eingebunden waren.
Die Europäische Union ist notwendig
De Gaulle und Pompidou haben in den 1960er und frühen 1970er Jahren die europäische Integration fortgesetzt, um Deutschland einzubinden - nicht aber wollten sie auch ihren eigenen Staat auf Gedeih und Verderb einbinden. Danach hat das gute Verständnis zwischen Giscard d’Estaing und mir zu einer Periode französisch-deutscher Kooperation und zur Fortsetzung der europäischen Integration geführt, eine Periode, die nach dem Frühjahr 1990 zwischen Mitterand und Kohl erfolgreich fortgesetzt worden ist. Zugleich ist seit 1950/52 die europäische Gemeinschaft bis 1991 schrittweise von sechs auf zwölf Mitgliedsstaaten gewachsen.
Dank der weitgehenden Vorarbeit durch Jacques Delors (damals Präsident der Europäischen Kommission) haben Mitterand und Kohl 1991 in Maastricht die gemeinsame Euro-Währung ins Leben gerufen, die dann im Jahre 2001, zehn Jahre später, greifbar geworden ist. Zugrunde lag abermals die französische Besorgnis vor einem übermächtigen Deutschland – genauer gesagt: vor einer übermächtigen D-Mark.
Inzwischen ist der Euro zur zweitwichtigsten Währung der Weltwirtschaft geworden. Diese europäische Währung ist nach innen wie auch im Außenverhältnis bisher stabiler als der amerikanische Dollar - und stabiler als die D-Mark in ihren letzten 10 Jahren gewesen ist. Alles Gerede und Geschreibe über eine angebliche „Krise des Euro“ ist leichtfertiges Geschwätz von Medien, von Journalisten und von Politikern.
Seit Maastricht 1991/92 hat sich aber die Welt gewaltig verändert. Wir haben die Befreiung der Nationen im Osten Europas und die Implosion der Sowjet-Union erlebt. Wir erleben den phänomenalen Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens und anderer „Schwellenländer“, die man früher pauschal „Dritte Welt“ genannt hat. Gleichzeitig haben sich die realen Volkswirtschaften größter Teile der Welt „globalisiert“, auf Deutsch: Fast alle Staaten der Welt hängen von einander ab. Vor allem haben die Akteure auf den globalisierten Finanzmärkten sich eine einstweilen ganz unkontrollierte Macht angeeignet.
Aber zugleich - und fast unbemerkt - hat sich die Menschheit explosionsartig auf 7 Milliarden Menschen vermehrt. Als ich geboren wurde, waren es gerade mal 2 Milliarden gewesen. Alle diese enormen Veränderungen haben gewaltige Auswirkungen auf die Völker Europas, auf ihre Staaten und auf ihren Wohlstand!
Andererseits überaltern alle europäischen Nationen – und überall schrumpfen die Zahlen ihrer Bürger. In der Mitte dieses 21. Jahrhunderts werden vermutlich sogar 9 Milliarden Menschen gleichzeitig auf der Erde leben, während dann die europäischen Nationen zusammen nur noch ganze 7 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. 7 Prozent von 9 Milliarden! Bis an das Jahr 1950 waren die Europäer über zwei Jahrhunderte lang über 20 Prozent der Weltbevölkerung gewesen. Aber seit 50 Jahren schrumpfen wir Europäer – nicht nur in absoluten Zahlen sondern vor allem in Relation zu Asien, zu Afrika und Lateinamerika. Ebenso schrumpft der Anteil der Europäer am globalen Sozialprodukt, d.h. an der Wertschöpfung der ganzen Menschheit. Er wird bis 2050 auf etwa 10 Prozent absinken; 1950 hatte er noch bei 30 Prozent gelegen.
Jede einzelne der europäischen Nationen wird 2050 nur noch einen Bruchteil von 1 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Das heißt: Wenn wir die Hoffnung haben wollen, dass wir Europäer eine Bedeutung für die Welt haben, dann können wir das nur gemeinsam. Denn als einzelne Staaten – ob Frankreich, Italien, Deutschland oder ob Polen, Holland oder Dänemark oder Griechenland – kann man uns am Ende nicht mehr in Prozentzahlen, sondern nur noch in Promillezahlen messen.
Daraus ergibt sich das langfristige strategische Interesse der europäischen Nationalstaaten an ihrem integrierenden Zusammenschluss. Dieses strategische Interesse an der europäischen Integration wird zunehmend an Bedeutung gewinnen. Es ist bisher den Nationen weitestgehend noch nicht bewusst. Es wird ihnen durch ihre Regierungen auch nicht bewusst gemacht.
Falls jedoch die Europäische Union im Laufe der kommenden Jahrzehnte nicht zu einer - wenn auch begrenzten - gemeinsamen Handlungsfähigkeit gelangen sollte, so ist eine selbstverursachte Marginalisierung der einzelnen europäischen Staaten und der europäischen Zivilisation nicht auszuschließen. Ebenso wenig kann in solchem Falle das Wiederaufleben von Konkurrenz- und Prestigekämpfen zwischen den Staaten Europas ausgeschlossen werden. In solchem Falle könnte die Einbindung Deutschlands kaum noch funktionieren. Das alte Spiel zwischen Zentrum und Peripherie könnte abermals Wirklichkeit werden.
Der Prozess der weltweiten Aufklärung, der Ausbreitung der Rechte des einzelnen Menschen und seiner Würde, der rechtsstaatlichen Verfassung und der Demokratisierung würde aus Europa keine wirksamen Impulse mehr erhalten. Unter diesen Aspekten wird die europäische Gemeinschaft zu einer Lebensnotwendigkeit für die Nationalstaaten unseres alten Kontinents. Diese Notwendigkeit reicht über die Motive Churchills und de Gaulles. Sie reicht aber auch über die Motive Monnets und über die Motive Adenauers hinaus. Sie überwölbt heute auch die Motive Ernst Reuters, Fritz Erlers, Willy Brandts und ebenso Helmut Kohls.
Ich füge hinzu: Gewiss aber geht es dabei auch immer noch um die Einbindung Deutschlands. Deshalb müssen wir Deutschen uns Klarheit verschaffen über unsere eigene Aufgabe, unsere eigene Rolle im Rahmen der europäischen Integration.
Deutschland hat Stetigkeit und Zuverlässigkeit nötig
Wenn wir am Ende des Jahres 2011 Deutschland von außen betrachten mit den Augen unserer mittelbaren und unmittelbaren Nachbarn, dann löst Deutschland seit einem Jahrzehnt Unbehagen aus – neuerdings auch politische Besorgnis. In den allerletzten Jahren sind erhebliche Zweifel in die Stetigkeit der deutschen Politik aufgetaucht. Das Vertrauen in die Verlässlichkeit der deutschen Politik ist beschädigt.
Dabei beruhen diese Zweifel und Besorgnisse auch auf außenpolitischen Fehlern unserer deutschen Politiker und Regierungen. Sie beruhen zum anderen Teil auf der für die Welt überraschenden ökonomischen Stärke der vereinigten Bundesrepublik. Unsere Volkswirtschaft hat sich – beginnend in den 1970er Jahren, damals noch zweigeteilt - zur größten in Europa entwickelt. Sie ist technologisch, sie ist finanzpolitisch und sie ist sozialpolitisch heute eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften der Welt. Unsere wirtschaftliche Stärke und unser seit Jahrzehnten vergleichsweise sehr stabiler sozialer Friede haben auch Neid ausgelöst - zumal unsere Arbeitslosigkeitsrate und auch unsere Verschuldungsrate durchaus im Bereich der internationalen Normalität liegen.
Allerdings ist uns nicht ausreichend bewusst, dass unsere Wirtschaft in hohem Maße sowohl in den gemeinsamen europäischen Markt integriert als auch zugleich in hohem Maße globalisiert und damit von der Weltkonjunktur abhängig ist. Wir werden deshalb im kommenden Jahr erleben, dass die deutschen Exporte nicht mehr sonderlich wachsen.
Gleichzeitig hat sich aber eine schwerwiegende Fehlentwicklung ergeben, nämlich anhaltende enorme Überschüsse unserer Handelsbilanz und unserer Leistungsbilanz. Die Überschüsse machen seit Jahren etwa 5 Prozent unseres Sozialproduktes aus. Sie sind ähnlich groß wie die Überschüsse Chinas. Das ist uns nicht bewusst, weil es sich nicht mehr in DM-Überschüssen niederschlägt, sondern in Euro. Es ist aber notwendig für unsere Politiker, sich dieses Umstandes bewusst zu sein.
Denn alle unsere Überschüsse sind in Wirklichkeit die Defizite der anderen. Die Forderungen, die wir an andere haben, sind deren Schulden. Es handelt sich um eine ärgerliche Verletzung des einstmals von uns zum gesetzlichen Ideal erhobenen „außenwirtschaftlichen Gleichgewichts“. Diese Verletzung muss unsere Partner beunruhigen. Und wenn es neuerdings ausländische, meistens amerikanische Stimmen gibt - inzwischen kommen sie von vielen Seiten - die von Deutschland eine europäische Führungsrolle verlangen, so weckt all dies zusammen bei unseren Nachbarn zugleich zusätzlichen Argwohn. Und es weckt böse Erinnerungen.
Diese ökonomische Entwicklung und die gleichzeitige Krise der Handlungsfähigkeit der Organe der Europäischen Union haben Deutschland abermals in eine zentrale Rolle gedrängt. Gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten hat die Kanzlerin diese Rolle willig akzeptiert. Aber es gibt in vielen europäischen Hauptstädten und ebenso in den Medien mancher unserer Nachbarstaaten abermals eine wachsende Besorgnis vor deutscher Dominanz. Dieses Mal handelt es sich nicht um eine militärisch und politisch überstarke Zentralmacht, wohl aber um ein ökonomisch überstarkes Zentrum!
An dieser Stelle ist eine ernste, sorgfältig abgewogene Mahnung an die deutschen Politiker, an die Medien und an unsere öffentliche Meinung notwendig.
Wenn wir Deutschen uns verführen ließen, gestützt auf unsere ökonomische Stärke, eine politische Führungsrolle in Europa zu beanspruchen oder doch wenigstens den Primus inter pares zu spielen, so würde eine zunehmende Mehrheit unserer Nachbarn sich wirksam dagegen wehren. Die Besorgnis der Peripherie vor einem allzu starken Zentrum Europas würde ganz schnell zurückkehren. Die wahrscheinlichen Konsequenzen solcher Entwicklung wären für die EU verkrüppelnd. Und Deutschland würde in Isolierung fallen.
Die sehr große und sehr leistungsfähige Bundesrepublik Deutschland braucht – auch zum Schutze vor uns selbst! – die Einbettung in die europäische Integration. Deshalb verpflichtet seit Helmut Kohls Zeiten, seit 1992 der Artikel 23 des Grundgesetzes uns zur Mitwirkung „... bei der Entwicklung der Europäischen Union“. Der Art. 23 verpflichtet uns für diese Mitwirkung auch zu dem „Grundsatz der Subsidiarität...“. Die gegenwärtige Krise der Handlungsfähigkeit der Organe der EU ändert nichts an diesen Grundsätzen.
Unsere geopolitische Zentrallage, dazu unsere unglückliche Rolle im Verlaufe der europäischen Geschichte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, dazu unsere heutige Leistungsfähigkeit, all dies zusammen verlangt von jeder deutschen Regierung ein sehr hohes Maß an Einfühlungsvermögen in die Interessen unserer EU-Partner. Und unsere Hilfsbereitschaft ist unerlässlich.
Wir Deutschen haben doch unsere große Wiederaufbau-Leistung der letzten sechs Jahrzehnte auch nicht allein und nur aus eigener Kraft zustande gebracht. Sondern sie wäre nicht möglich gewesen ohne die Hilfen der westlichen Siegermächte, nicht ohne unsere Einbettung in die europäische Gemeinschaft und in das atlantische Bündnis, nicht ohne die Hilfen durch unsere Nachbarn, nicht ohne den politischen Aufbruch im Osten Mitteleuropas und nicht ohne das Ende der kommunistischen Diktatur. Wir Deutschen haben Grund zur Dankbarkeit. Und zugleich haben wir die Pflicht, uns der empfangenen Solidarität würdig zu erweisen durch unsere eigene Solidarität mit unseren Nachbarn!
Dagegen wäre ein Streben nach einer eigenen Rolle in der Weltpolitik und das Streben nach weltpolitischem Prestige ziemlich unnütz, wahrscheinlich sogar schädlich. Jedenfalls bleibt die enge Zusammenarbeit mit Frankreich und mit Polen unerlässlich, mit allen unseren Nachbarn und Partnern in Europa.
Nach meiner Überzeugung liegt es im kardinalen, langfristig-strategischen Interesse Deutschlands, sich nicht zu isolieren und sich nicht isolieren zu lassen. Eine Isolation innerhalb des Westens wäre gefährlich. Eine Isolation innerhalb der Europäischen Union oder des Euro-Raumes wäre hoch gefährlich. Für mich rangiert dieses Interesse Deutschlands eindeutig höher als jedwedes taktische Interesse aller politischen Parteien.
Die deutschen Politiker und die deutschen Medien haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, diese Einsicht nachhaltig in der öffentlichen Meinung zu vertreten.
Wenn aber jemand zu verstehen gibt, heute und künftig werde in Europa Deutsch gesprochen; wenn ein deutscher Außenminister meint, fernseh-geeignete Auftritte in Tripolis, in Kairo oder in Kabul seien wichtiger als politische Kontakte mit Lissabon, mit Madrid, mit Warschau oder Prag, mit Dublin, Den Haag, Kopenhagen oder Helsinki; wenn ein anderer meint, eine europäische „Transfer-Union“ verhüten zu müssen – dann ist das alles bloß schädliche Kraftmeierei.
Tatsächlich ist Deutschland doch über lange Jahrzehnte ein Nettozahler gewesen! Wir konnten das leisten und haben es seit Adenauers Zeiten getan. Und natürlich waren Griechenland, Portugal oder Irland immer Netto-Empfänger.
Diese Solidarität mag heute der deutschen politischen Klasse nicht ausreichend bewusst sein. Aber bisher war sie selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich - und außerdem seit Lissabon vertraglich vorgeschrieben - ist das Prinzip der Subsidiarität: Das, was ein Staat nicht selbst regeln oder bewältigen kann, das muss die Europäische Union übernehmen.
Konrad Adenauer ist seit dem Schuman-Plan, aus richtigem politischen Instinkt und gegen den Widerstand sowohl Kurt Schumachers als später auch gegen den Widerstand Ludwig Erhards auf die französischen Offerten eingegangen. Adenauer hat das langfristig-strategische deutsche Interesse – trotz anhaltender Teilung Deutschlands! – richtig beurteilt. Alle Nachfolger – so auch Brandt, Schmidt, Kohl und Schröder - haben die Integrationspolitik Adenauers fortgesetzt.
Alle tagespolitische, alle innenpolitische, alle außenpolitische Taktik hat nie das langfristig-strategische Interesse der Deutschen in Frage gestellt. Deshalb konnten alle unsere Nachbarn und Partner sich jahrzehntelang auf die Stetigkeit der deutschen Europapolitik verlassen – und zwar unabhängig von allen Regierungswechseln. Diese Kontinuität bleibt auch in Zukunft geboten.
Die heutige Lage der EU verlangt Tatkraft
Konzeptionelle deutsche Beiträge waren immer selbstverständlich. Das sollte auch künftig so bleiben. Dabei sollten wir allerdings nicht der fernen Zukunft vorgreifen. Vertragsänderungen könnten ohnehin die vor zwanzig Jahren in Maastricht geschaffenen Tatsachen, die Unterlassungen und Fehler nur zum Teil korrigieren. Die heutigen Vorschläge zur Änderung des geltenden Lissaboner Vertrages erscheinen mir für die unmittelbare Zukunft als wenig hilfreich, wenn man sich nämlich an die bisherigen Schwierigkeiten mit allseitiger nationaler Ratifikation erinnert - oder an die negativ ausgegangenen Volksabstimmungen.
Ich stimme deshalb dem italienischen Staatspräsidenten Napolitano zu, wenn er Ende Oktober in einer bemerkenswerten Rede verlangt hat, dass wir uns heute auf das konzentrieren müssen, was heute notwendig zu tun ist. Und dass wir dazu die Möglichkeiten ausschöpfen müssen, die der geltende EU-Vertrag uns gibt – besonders zur Stärkung der Haushaltsregeln und der ökonomischen Politik im Euro-Währungsraum.
Die gegenwärtige Krise der Handlungsfähigkeit der in Lissabon geschaffenen Organe der Europäischen Union darf nicht Jahre andauern! Mit der Ausnahme der Europäischen Zentralbank haben die Organe – das Europäische Parlament, der Europäische Rat, die Brüsseler Kommission und die Ministerräte – sie alle haben seit Überwindung der akuten Bankenkrise 2008 und besonders der anschließenden Staatsverschuldungskrise nur wenig an heute wirksamen Hilfen zustande gebracht.
Für die Überwindung der heutigen Führungskrise der EU gibt es kein Patentrezept. Man wird mehrere Schritte benötigen, zum Teil gleichzeitig, zum Teil nacheinander. Man wird nicht nur Urteilskraft und Tatkraft benötigen, sondern auch Geduld! Dabei dürfen konzeptionelle deutsche Beiträge sich nicht auf Schlagworte beschränken. Sie sollten nicht auf dem Fernseh-Marktplatz, sondern stattdessen vertraulich im Rahmen der Gremien der Organe der EU vorgetragen werden. Dabei dürfen wir Deutsche weder unsere ökonomische noch unsere soziale Ordnung, weder unser föderatives System noch unsere Haushalts- und Finanzverfassung den europäischen Partnern als Vorbild oder als Maßstab vorstellen, sondern lediglich als Beispiele unter mehreren verschiedenen Möglichkeiten.
Für das, was Deutschland heute tut oder unterlässt tragen wir alle gemeinsam die Verantwortung für die zukünftigen Wirkungen in Europa. Wir brauchen dafür europäische Vernunft. Wir brauchen aber Vernunft nicht allein, sondern ebenso ein mitfühlendes Herz gegenüber unseren Nachbarn und Partnern.
In einem wichtigen Punkt stimme ich mit Jürgen Habermas überein, der jüngst davon gesprochen hat, dass – ich zitiere – „...wir tatsächlich jetzt zum ersten Mal in der Geschichte der EU einen Abbau von Demokratie erleben!!“ (Ende des Zitats). In der Tat: Nicht nur der Europäische Rat inklusive seiner Präsidenten, ebenso die Europäische Kommission inklusive ihres Präsidenten, dazu die diversen Ministerräte und die ganze Brüsseler Bürokratie haben gemeinsam das demokratische Prinzip beiseite gedrängt! Ich bin damals, als wir die Volkswahl zum Europäischen Parlament einführten, dem Irrtum erlegen, das Parlament würde sich schon selbst Gewicht verschaffen. Tatsächlich hat es bisher auf die Bewältigung der Krise keinen erkennbaren Einfluss genommen, denn seine Beratungen und Entschlüsse bleiben bisher ohne öffentliche Wirkung.
Deshalb möchte ich an Martin Schulz appellieren: Es wird höchste Zeit, dass Sie und Ihre christdemokratischen, Ihre sozialistischen, liberalen und grünen Kollegen, sich gemeinsam, aber drastisch zu öffentlichem Gehör bringen. Wahrscheinlich eignet sich das Feld der seit der G20 im Jahre 2008 abermals völlig unzureichend gebliebenen Aufsicht über Banken, Börsen und deren Finanzinstrumente am besten für einen solchen Aufstand des Europäischen Parlaments.
Tatsächlich haben einige zigtausend Finanzhändler in USA und in Europa, dazu einige Ratingagenturen, die politisch verantwortlichen Regierungen in Europa zu Geiseln genommen. Es ist kaum zu erwarten, dass Barack Obama viel dagegen ausrichten wird. Das Gleiche gilt für die britische Regierung. Tatsächlich haben zwar die Regierungen der ganzen Welt im Jahr 2008/2009 mit Garantien und mit dem Geld der Steuerzahler die Banken gerettet. Aber schon seit 2010 spielt diese Herde von hochintelligenten, zugleich psychose-anfälligen Finanzmanagern abermals ihr altes Spiel um Profit und Bonifikation. Ein Hazardspiel zu Lasten aller Nicht-Spieler, das Marion Dönhoff und ich schon in den 1990er Jahren als lebensgefährlich kritisiert haben.
Wenn sonst keiner handeln will, dann müssen die Teilnehmer der Euro-Währung handeln. Dazu kann der Weg über den Artikel 20 des geltenden EU-Vertrages von Lissabon gehen. Dort ist ausdrücklich vorgesehen, dass einzelne oder mehrere EU-Mitgliedsstaaten „...untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit begründen“. Jedenfalls sollten die an der gemeinsamen Euro-Währung beteiligten Staaten gemeinsam für den Euro-Raum durchgreifende Regulierungen ihres gemeinsamen Finanzmarktes ins Werk setzen. Von der Trennung zwischen normalen Geschäftsbanken und andererseits Investment- und Schattenbanken bis zum Verbot von Leerverkäufen von Wertpapieren auf einen zukünftigen Termin, bis zum Verbot des Handels mit Derivaten, sofern sie nicht von der offiziellen Börsenaufsicht zugelassen sind – und bis hin zur wirksamen Einschränkung der den Euro-Raum betreffenden Geschäfte der einstweilen unbeaufsichtigten Ratingagenturen. Ich will Sie, meine Damen und Herren, nicht mit weiteren Einzelheiten belasten.
Natürlich würde die globalisierte Bankenlobby abermals alle Hebel dagegen in Bewegung setzen. Sie hat ja schon bisher alle durchgreifenden Regulierungen verhindert. Sie hat für sich selbst ermöglicht, dass die Herde ihrer Händler die europäischen Regierungen in die Zwangslage gebracht hat, immer neue „Rettungsschirme“ erfinden zu müssen – und sie durch „Hebel“ auszuweiten. Es wird hohe Zeit, sich dagegen zu wehren. Wenn die Europäer den Mut und die Kraft zu einer durchgreifenden Finanzmarkt-Regulierung aufbringen, dann können wir auf mittlere Sicht zu einer Zone der Stabilität werden. Wenn wir aber hier versagen, dann wird das Gewicht Europas weiter abnehmen – und die Welt entwickelt sich in Richtung auf ein Duumvirat zwischen Washington und Peking.
Für die unmittelbare Zukunft des Euro-Raumes bleiben gewisslich all die bisher angekündigten und angedachten Schritte notwendig. Dazu gehören die Rettungsfonds, die Verschuldungsobergrenzen und deren Kontrolle, eine gemeinsame ökonomische und fiskalische Politik, dazu eine Reihe von jeweils nationalen steuerpolitischen, ausgabenpolitischen, sozialpolitischen und arbeitsmarktpolitischen Reformen. Aber zwangsläufig wird auch eine gemeinsame Verschuldung unvermeidbar werden. Wir Deutschen dürfen uns dem nicht national-egoistisch verweigern.
Wir dürfen aber auch keineswegs für ganz Europa eine extreme Deflationspolitik propagieren. Vielmehr hat Jacques Delors recht, wenn er verlangt, mit der Gesundung der Haushalte zugleich wachstumsfördernde Projekte einzuleiten und zu finanzieren. Ohne Wachstum, ohne neue Arbeitsplätze kann kein Staat seinen Haushalt sanieren. Wer da glaubt, Europa könne durch Haushaltseinsparungen allein gesund werden, der möge gefälligst die schicksalhafte Wirkung von Heinrich Brünings Deflationspolitik 1930/32 studieren. Sie hat eine Depression und ein unerträgliches Ausmaß an Arbeitslosigkeit ausgelöst und damit den Untergang der ersten deutschen Demokratie eingeleitet.
An meine Freunde
Zum Schluss, liebe Freunde! Eigentlich muss man nicht so sehr den Sozialdemokraten internationale Solidarität predigen. Denn die deutsche Sozialdemokratie ist seit anderthalb Jahrhunderten internationalistisch gesonnen – in viel höherem Maße als Generationen von Liberalen, von Konservativen oder von Deutsch-Nationalen. Wir Sozialdemokraten haben zugleich an der Freiheit und an der Würde jedes einzelnen Menschen festgehalten. Wir haben zugleich festgehalten an der repräsentativen, der parlamentarischen Demokratie. Diese Grundwerte verpflichten uns heute zur europäischen Solidarität.
Gewiss wird Europa auch im 21. Jahrhundert aus Nationalstaaten bestehen, jeder mit seiner eigenen Sprache und mit seiner eigenen Geschichte. Deshalb wird aus Europa gewiss kein Bundesstaat werden. Aber die Europäische Union darf auch nicht zu einem bloßen Staatenbund verkommen. Die Europäische Union muss ein dynamisch sich entwickelnder Verbund bleiben. Es gibt dafür in der ganzen Menschheitsgeschichte kein Beispiel. Wir Sozialdemokraten müssen zur schrittweisen Entfaltung dieses Verbundes beitragen.
Je älter man wird, desto mehr denkt man in langen Zeiträumen. Auch als alter Mann halte ich immer noch fest an den drei Grundwerten des Godesberger Programms: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Dabei denke ich übrigens, dass heute die Gerechtigkeit vor allem auch Chancengleichheit für Kinder, für Schüler und für junge Leute insgesamt verlangt.
Wenn ich zurückschaue auf das Jahr 1945 oder zurückschauen kann auf das Jahr 1933 – damals war ich gerade 14 Jahre alt geworden -, so will mir der Fortschritt, den wir bis heute erreicht haben, als fast unglaublich erscheinen. Der Fortschritt, den die Europäer seit dem Marshall-Plan 1948, seit dem Schuman-Plan 1950, den wir dank Lech Walesa und Solidarnosz, dank Vaclav Havel und der Charta 77, den wir dank jener Deutschen in Leipzig und Ostberlin seit der großen Wende 1989/91 heute erreicht haben.
Wenn heute der größte Teil Europas sich der Menschenrechte und des Friedens erfreut, dann hatten wir uns das weder 1918 noch 1933 noch 1945 vorstellen können. Lasst uns deshalb dafür arbeiten und kämpfen, dass die historisch einmalige Europäische Union aus ihrer gegenwärtigen Schwäche standfest und selbstbewusst hervorgeht!