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Foto: Eine Hand hebt eine überdimensionale Europaflagge an
dpa
23.06.2016 | Europa nach dem britischen Referendum

Aufbruch, jetzt!

Sigmar Gabriel und Martin Schulz

Europa braucht einen Neustart. Ängstliches Stückwerk oder ein einfaches „Weiter so“ darf es nach dem britischen Referendum nicht geben. Es ist höchste Zeit für eine mutige Politikwende. Für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger, das Wohlstand und Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt. Ein Namensbeitrag von Sigmar Gabriel und Martin Schulz.

Europa war lange das Versprechen auf eine bessere Zukunft. Eine Zukunft in sicherem Frieden, mit wachsendem Wohlstand und mit mehr Freiheiten. Europa war das Versprechen, dass man eine Gesellschaft aufbauen kann, die demokratisch und die solidarisch ist. Eine Gesellschaft, die auf der Achtung von Grundrechten basiert und die gleichzeitig ein besseres Leben für zukünftige Generationen verspricht.

Die Gründungsgeneration Europas hat diesen europäischen Traum geträumt. Auf den Trümmern europäischer Städte und Dörfer und angesichts des Holocausts haben sie deshalb angefangen, diesen Traum Stück für Stück Realität werden lassen.

Über Jahrzehnte hinweg hat Europa dieses Versprechen gehalten und hat uns Frieden, Wohlstand und Freiheit gebracht. Nie ist Europa in Zweifel gezogen worden, sondern immer mehr Menschen, ganze Völker und Länder wollten unbedingt Teil dieses Europas werden. Bis heute.

Heute aber glauben viele dieses Versprechen nicht mehr und immer mehr Menschen zweifeln an Europa. Sie halten es für einen Teil des Problems und nicht mehr für den konstruktiven Teil der Lösung. Der europäische Zusammenhalt ist gefährdet. Die vergangenen sieben Jahre seit der globalen Finanzmarktkrise von 2008 und 2009 sind für die Europäische Union und für die Währungsgemeinschaft des Euro eine Zeit der anhaltenden wirtschaftlichen und politischen Krise geworden. Wachstumsschwäche, Investitionsschwäche und Beschäftigungskrise haben Europa politisch gespalten wie nie zuvor seit den Römischen Verträgen. Die nationalen Gegensätze, Egoismen und gegenseitigen Schuldvorwürfe sind unter dem Druck von Massenarbeitslosigkeit und politischer Entscheidungsschwäche wieder erwacht. Durch das Referendum in den Niederlanden zur Ukraine, durch die österreichischen Präsidentschaftswahlen und die Debatte um einen Austritt Großbritanniens aus der EU haben die EU-Gegner europaweit Morgenluft gewittert. In allen europäischen Ländern haben anti-europäische Parteien in den vergangenen Jahren große Wahlerfolge erzielt und inzwischen haben einige von ihnen sogar Regierungsverantwortung.

Durch diese Wahlerfolge haben sie nicht nur legislative und exekutive Macht erlangt, sondern es gelingt ihnen teilweise auch, in ihren Gesellschaften die Debatte zu bestimmen, weil auch die politische Mitte und Teile der veröffentlichten Meinung glaubt, in eine vermeintlich berechtigte EU-Kritik einstimmen zu müssen.

Diese Europaskepsis spiegelt sich auch im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs, der zunehmend handlungsunfähig geworden ist, obschon er sich in den vergangenen Jahren in einem „Akt der Selbstermächtigung“ selbst zur zentralen Entscheider-Institution erklärt hat.

Wir sind damit Zeuge einer paradoxen Situation, weil diejenigen, die durch ihr Verhalten ein wirksames Handeln der EU verhindern, gleichzeitig am lautesten kritisieren, dass die EU die drängenden Probleme nicht löst. Da der Europäische Rat zumeist einstimmig entscheidet, führt dies zu oft zu einer Total-Blockade der EU - ein Umstand, der die Frustration vieler Menschen befördert und dadurch den Zersetzungsprozess weiter beschleunigt.

Dies ist umso fataler, als dass die zentralen Herausforderungen mehr denn je einer funktionierende EU bedürfen: Das nachhaltige Management und die Ursachenbekämpfung einer unkontrollierten Migration, der effektive Kampf gegen den internationalen Terrorismus und die konstruktive Beantwortung der drängenden Gerechtigkeitsfragen durch eine politische Gestaltung der Globalisierung, können nur im Rahmen von EU-Lösungen erfolgen.

Demgegenüber sehen wir uns aber vor allem von rechts - partiell auch von links - mit dem Auferstehen einer Ideologie konfrontiert, die suggeriert, man könne Globalisierungsprozesse zurückdrehen und im Rahmen der Nationen wirkungsvolle Lösungen für die grundlegenden Probleme hinbekommen. Diese Ideologie hat die EU zu ihrer Hauptgegnerin erklärt.

Die Antwort von verantwortungsvoller Politik muss deshalb lauten, erneut die Begeisterung für Europa zu wecken. Dafür reicht ein phantasieloses „Weiter so“, technokratische Reformansätze oder ein durchwurschteln aber nicht mehr aus. Wir brauchen jetzt den Mut, etwas Größeres zu wagen. Die Überzeugung, dass Europa für alle ein Gewinn ist, kann nur dann wieder stark werden, wenn wir endlich einen Ausweg aus der ökonomischen Krise finden. Deshalb gilt: Vorrang muss jetzt ein neuer wirtschaftlicher Aufschwung in Europa haben!

Das heißt nicht, den Anti-Europäern und laut schreienden Populisten mit ihrer Kritik Recht zu geben. Sie wollen ganz bewusst Europa lahmlegen, um dann behaupten zu können, dass die drängenden Probleme nicht gelöst würden. Sie wollen die Krise, die Zuspitzung und die Verwerfung. Sie wollen spalten und Gräben aufreißen, weil sie glauben, dass sie dadurch politisch gewinnen können.

Es ist notwendig, sich diesen Populisten entschieden in den Weg zu stellen und die Konsequenzen ihres verantwortungslosen Redens und Handelns aufzuzeigen. Denn scheitert Europa, dann scheitert damit ein ganzes Gesellschaftsmodell: die erste und einzige transnationale Demokratie, die es in der Geschichte der Menschheit gegeben hat und die Freiheit und Solidarität miteinander zu verbinden sucht. Scheitert Europa, negieren wir die Lehren aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

Deshalb: Wenn man das retten will, für was Europa einmal in den Augen der meisten Menschen gestanden hat, brauchen wir nun einen neuen Impuls. Wir brauchen einen ambitionierten, kräftigen Schub und kein ängstliches Stückwerk, damit die EU die Probleme lösen kann, die die Bürgerinnen und Bürger beunruhigen.

Europa braucht eine Politikwende!

Für jede Reform müssen dabei als maßgebliche Kriterien gelten, dass

  1. es in Europa wieder Wachstum und wirtschaftlichen Aufschwung gibt und es gerechter zugeht,
  2. Europa sich um die Gestaltung der Zukunftsaufgaben kümmert,
  3. es demokratischer und transparenter wird und
  4. es seinen Beitrag zu einem nachhaltigen Frieden und zu mehr Sicherheit im Inneren leistet.

Wer die beschleunigende Diskreditierung der EU - aber auch von Politik insgesamt - bekämpfen will, muss sich nun sehr deutlich bekennen. Es gilt, konkret das Zivilisationsprojekt der europäischen Einigung zu verteidigen und damit verbunden, einen auf Dialog und Ausgleich orientierten Politikstil zu finden. Ein solcher Stil ist das sichtbare Gegenmodell zu dem polarisierenden und immer schriller werdenden Politikansatz, der in Europa von vielen Populisten - bis weit in manche sogenannte bürgerliche Partei hinein - und in den USA von Donald Trump inszeniert wird.

Eine Reform in Europa muss sich dabei auf mindestens 10 Bereiche beziehen:

  1. Europa muss sich auf das Wesentliche konzentrieren

    Seit der Wahl in 2014 hat die Europäische Kommission den Willen gezeigt die Handlung der EU auf Bereiche zu konzentrieren, in denen sie einen klaren Mehrwert hat. Nachdem die EU ihren Bürgern den Binnenmarkt und Personenfreizügigkeit ermöglicht hat, muss sie ihre Leistungen an die heutige Erwartungshaltung anpassen. Europas Bürger verlangen heute nach dem Schutz ihrer Werte und ihres Lebensstils.

    Die EU ist in vielen Bereichen klar der beste, und geeignetste Akteur um solch positive Ergebnisse für ihre Bürger zu erzielen. Umweltpolitik ist ein exzellentes Beispiel hierfür, da Umweltkatastrophen nicht an nationalen Grenzen halt machen, und daher transnationale Maßnahmen benötigt werden. Wir sollten in diesen Bereichen das Handeln der EU favorisieren. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich die EU in Dinge einmischt, die regional oder national gut funktionieren. Wir sehen zum Beispiel beim Klimaschutz, dass die EU Richtwerte vorgibt, die konkreten Einsparpotentiale aber regional definiert und umgesetzt werden.

    Allerdings muss in Zukunft klar sein, dass dort, wo Europa die Zuständigkeit hat, es auch die Instrumente bekommt, um handlungsfähig zu sein.

    Eine klarere Kompetenzverteilung hilft auch dabei, die Zuständigkeiten der Mitgliedsstaaten von denen der EU abzugrenzen. Sie ermöglicht es daher den Bürgerinnen und Bürgern, den richtigen Adressaten für eine Problemlösung zu finden. Zukünftig muss klar sein wer sich durch Nichthandeln schuldig macht, und auch, wem Erfolg von guter Politik zuzuschreiben ist.
  2. Europa muss demokratischer und verständlicher werden

    Europa muss noch näher an seine Bürger rücken, und seinen Demokratisierungsprozess, der mit der Spitzenkandidatenwahl 2014 begonnen wurde, weiter fortsetzen. Zum ersten Mal konnten die Bürger mit ihrer Stimme den Kommissionspräsidenten, der als de-facto Regierungschef fungiert, direkt wählen. Wir müssen nun weiter daran arbeiten, dass die Europäische Kommission künftig zu einer wahren europäischen Regierung umgebaut wird, eine Regierung die parlamentarisch durch das Europaparlament und eine 2. Kammer der Mitgliedsstaaten kontrolliert wird. Nur dadurch bekommen wir eine klare Struktur, die die Menschen auch aus ihren Heimatländern kennen, und machen überdies politische Verantwortlichkeiten transparent. Wer zukünftig mit der EU unzufrieden ist, muss sie dann nicht mehr grundsätzlich in Frage stellen, sondern kann durch Wahlen eine europäische Regierung durch eine andere ersetzen, so wie wir das aus unseren nationalen Demokratien kennen.
  3. Europa braucht die wirtschaftspolitische Wende und einen Wachstumspakt für die EU

    Um mit Aussicht auf Erfolg um politische Mehrheiten für weitere Schritte der Integration werben zu können, brauchen wir eine wirtschaftliche Trendwende. Ökonomische Prosperität und soziale Gerechtigkeit bilden die Grundlage einer starken Union nach Innen und Außen.

    Eine europäische Wachstumsunion

    Das Grundproblem Europas heute besteht in zu großer wirtschaftlicher und sozialer Divergenz. Manche Mitgliedsstaaten – darunter auch Deutschland – sind in guter Verfassung. Andere stagnieren, und das Risiko einer wiederaufflammenden Schuldenkrise ist nicht gebannt. Auch innerhalb der Staaten herrscht zu große Ungleichheit, besonders auf Kosten von Jungen, Arbeitslosen und prekär Beschäftigten. Diese Anzeichen der Polarisierung gefährden nicht nur den Zusammenhalt der Gesellschaften, sie schwächen auch die Wachstumspotenziale der Wirtschaft. Die zentrale Herausforderung ist es, dieser zunehmenden Divergenz und Ungleichheit mit einem dynamisch wachsenden und sozialeren Europa zu begegnen.

    Um diese Probleme zu überwinden, müssen wir die Ursachen der europäischen Stagnation und Divergenz anpacken. Am Beginn muss die Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Basis der EU stehen. Zentrales Instrument der Wirtschaftspolitik ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt. Wir müssen dazu kommen, die Wachstumskomponente des Pakts innerhalb und außerhalb der Eurozone zu stärken.

    Eine wachstumsfreundliche Gestaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts

    Erstens, muss der Stabilitäts- und Wachstumspakt seinem Namen gerecht und wachstumsfreundlicher werden; er ist derzeit zu komplex, fehleranfällig und prozyklisch. Die Regeln müssen so weiterentwickelt werden, dass sie einerseits Überschuldung verhindert und andererseits ausreichende Freiräume für länderspezifische Stabilisierungs- und Wachstumspolitik bieten. Nicht zuletzt die deutsche Erfahrung der vergangenen anderthalb Jahrzehnte zeigt: In Abschwungphasen sollten Mitgliedsstaaten höhere Flexibilität erhalten, um Ausgaben für Arbeitslose und höhere Investitionen zu ermöglichen. Mehr Flexibilität des Paktes sollte allerdings mit der Erreichung von Reform-Meilensteinen Hand in Hand gehen. So sollte die Reform des Pakts auch sicherstellen, dass gleichzeitig die fiskalische Disziplin in den Mitgliedstaaten in Phasen des Aufschwungs dadurch gestärkt wird, dass ein institutionalisierter Mechanismus zur Schuldenrestrukturierung eingeführt wird.

    Starke Investitions- und Modernisierungsimpulse auf europäischer Ebene

    Größere Spielräume der nationalen Haushalte für eine offensive Investitionspolitik sollten auf der europäischen Ebene verstärkt und ergänzt werden. Die dafür notwendigen Initiativen und Investitionen sollten anfänglich von den europäischen Strukturfonds und Kohäsionsfonds sowie dem Juncker-Plan (EFSI-Fonds) zur öffentlichen und privaten Investitionsförderung gestützt werden. Der EFSI sollte bei einer zentralen Instanz angesiedelt, mit höheren Finanzmitteln ausgestattet und verstetigt werden, um zentrale größere und transformative Projekte identifizieren und finanzieren, die Mitgliedstaaten bei grenzüberschreitenden Projekten aber auch beraten und koordinieren zu können. Dazu wollen wir ein zentrales Investitions-Regelwerk etablieren, das bei transeuropäischen Verkehrs- und Energienetzen, beim Aufbau eines europäischen Gigabyte-Netzes, bei Ausbildung für die Anforderungen der digitalen Ökonomie und der Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit, bei Risikokapital und Gründungsfinanzierung neue Wachstumsimpulse mit entschlosseneren Modernisierungsinvestitionen verbindet.

    Für ein ökonomisches Schengen

    Um langfristiges Produktivitätswachstum in Europa zu erhöhen und den europäischen Binnenmarkt auszubauen, benötigen wir jetzt, zweitens, eine gemeinschaftliche Wachstumsoffensive - ein „ökonomisches Schengen“. Der Binnenmarkt muss sein Potenzial in vollem Umfang entfalten können und neue Wachstumskräfte freisetzen. Grenzüberschreitende Aktivitäten und Handel müssen noch mehr zu einer Realität im Alltag von Unternehmen wie von Verbraucherinnen und Verbrauchern werden. Dazu gehört die schrittweise Umsetzung zentraler Arbeits- und Produktmarktreformen, wie sie die europäische Kommission und die OECD seit Jahren fordern, besonders in den Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit.

    Die Digitalisierung wird den Binnenmarkt grundlegend verändern – diesen Prozess muss die Europäische Union nutzen und gestalten. Dazu muss sich Europa für die digitale Infrastruktur höchste gemeinsame Ziele setzen. Ein Gigabyte-Netz kann ein europäischer Leuchtturm sein, der unsere Aktivitäten bündelt und auf den wir alle digitalen Strategien ausrichten sollten. Wir müssen dafür sorgen, dass der Zugang dazu auch und gerade in wirtschaftlich schwachen Gebieten der Gemeinschaft möglich ist. Das stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl und das Bewusstsein, von den Vorzügen des Binnenmarktes Gebrauch machen zu können - egal, aus welchem Teil der EU man kommt oder wo man sich gerade aufhält. Die EU muss hier viel schneller als bislang geplant zu greifbaren Ergebnissen kommen. Wir dürfen hierbei allerdings nicht vergessen auf die Konsequenzen der Digitalisierung zu achten. Wir müssen verstehen, was diese für unsere Arbeitsmärkte bedeutet und uns versichern, dass unsere Sozialstandards erhalten bleiben.

    Zugleich müssen wir einen digitalen Ordnungsrahmen schaffen, der es den europäischen Unternehmen ermöglicht, einen Spitzenplatz bei der digitalen Revolution zu gewinnen. Dieser Rahmen muss höchste Sicherheits- und Schutzstandards für Unternehmen und Verbraucher garantieren und für sie ein Höchstmaß an Datensouveränität verbindlich und wirksam absichern.

    Die Finanzkrise hat gezeigt, dass eine starke Industrie auch weiterhin von zentraler Bedeutung für eine gute wirtschaftliche Entwicklung ist. Die vierte Industrielle Revolution, die wir gerade erleben, eröffnet für Europa enorme Chancen. Deshalb brauchen wir eine industrielle Renaissance in Europa. Europa muss wieder das Ziel erreichen, 20 Prozent des BIP durch industrielle Produktion zu erwirtschaften. Dazu brauchen wir auch auf europäischer Ebene eine aktive Industriepolitik, die Innovationen fördert und für faire Wettbewerbsbedingungen sorgt und damit eine breite industrielle Wertschöpfung mit guten Arbeitsplätzen nachhaltig sichert.

    Mit einem „ökonomischen Schengen“ wollen wir einen entscheidenden Schritt weiter gehen. Wir wollen in zentralen Bereichen wie digitale Wirtschaft und Energie ein Höchstmaß an Integration schaffen, zunächst mit den Ländern, die zu weiterer Integration bereit sind, aber mit der Perspektive, durch unser Vorangehen den Binnenmarkt für die gesamte Europäische Union in eine neue Dimension zu entwickeln.
  4. Europa muss international mit einer Stimme sprechen

    Nur wenn Europa international geschlossen auftritt, kann es einen substantiellen Beitrag zur internationalen Stabilität leisten. Im 21. Jahrhundert wird es entscheidend darauf ankommen, dass Europa seine Erfahrungen in der Konfliktprävention einbringt. Ohne Europas Beitrag wird es keine globale Ordnungspolitik und keinen Frieden geben können, auch, weil andere, etablierte Großmächte an Reputation verloren haben oder sich zunehmend auf andere Regionen konzentrieren. Deshalb müssen wir stärker als bisher als einheitliche regionale Ordnungsmacht auftreten. Hierfür muss die europäische Außenpolitik vergemeinschaftet werden.
  5. Europa muss die Gerechtigkeitsfrage beantworten

    Wenn Arbeitnehmer und kleine und mittelständische Unternehmer jeden Monat ihre Steuer zahlen, während unsoziale Spekulanten ihre Milliardenbeträge in Steueroasen parken können, entsteht eine eklatante Gerechtigkeitslücke. Diese wird noch stärker empfunden, wenn Banken mit Milliardenbeträgen gerettet werden, wenn sie sich verspekuliert haben, während gleichzeitig an anderer Stelle Geld fehlt. Hierdurch ist die Legitimation Europas gefährdet. Deshalb muss Europa die Instrumente bekommen, um Steuervermeidung und Steuerbetrug effektiv zu bekämpfen. „Das Land des Gewinns ist das Land der Steuer“ ist dabei ein einfacher Grundsatz, mit dem sehr schnell ein wirkungsvolles Signal für mehr Gerechtigkeit gesetzt werden könnte. Der Kampf gegen Steueroasen und die Besteuerung von Spekulation sind weitere wichtige Schritte, durch die auch die Entlastung des Faktors Arbeit finanziert werden könnte.

    Eine starke EU muss die Menschen und deren sozialen Schutz in den Mittelpunkt stellen. Nur wenn die Menschen einen konkreten Mehrwert durch Politik, die sie unmittelbar erreicht, erfahren, wird Europa seine Vertrauenskrise überwinden. Dazu gehört, die beschämend hohe Jugendarbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. Die europäische Jugendgarantie muss zielgenauer ausgestaltet und mit den notwendigen Mitteln untersetzt werden.

    Eine europäische Sozialpolitik kann und soll die nationalen Sozialstaaten nicht ersetzen, aber sie sollte und kann versuchen, die bestehenden nationalen Sozialschutzsysteme aneinander anzunähern.
  6. Europa muss seine Ressourcen neu justieren

    Auch am Haushalt muss erkennbar sein, dass Europa sich der Aufgaben annimmt, die über die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaften entscheiden. Deshalb müssen mehr Gelder in die Ausbildung zukünftiger Generationen, in Forschung und Universitäten, in den Ausbau der digitalen Infrastruktur, für die Produktion von gesunden Lebensmitteln, in den Umweltschutz und eine ökologische Energiewende und in eine smarte Industrie- und Mittelstandpolitik gesteckt werden.

    Eine Wachstumsunion mit erhöhter Investitionsfähigkeit setzt auch eine solide Einnahmebasis voraus. Deshalb wollen wir endliche Schritte zur Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung (Gemeinsame Bemessungsgrundlage mit Mindestbesteuerung) und des Steuervollzugs in Europa auf den Weg bringen.
  7. Europa muss seine Sicherheit stärken

    Wie die erschreckenden terroristischen Anschläge in den vergangenen Monaten gezeigt haben, arbeiten die Verbrecherbanden grenzüberschreitend gut vernetzt. Deshalb muss Europa im Bereich der inneren Sicherheit seine Kleinstaaterei beenden und eine wirkungsvolle Kooperation der regionalen nationalen Sicherheitsbehörden verstärken. Darüber hinaus müssen wir unsere eigenen europäischen Struktur deutlich stärken und wo nötig auch neu aufbauen. Mittelfristig wird dies beispielsweise zu einem europäischen FBI führen.
  8. Europa braucht eine gemeinsame Einwanderungspolitik

    Ohne ein gemeinsames europäisches Einwanderungsrecht werden wir die Herausforderungen durch die Migration kaum stemmen können. Dies verlangt sowohl eine gemeinsame Asylpolitik, als auch ein gemeinsames Vorgehen bei der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen und Zuwanderern.
  9. Europa muss seine Grenzen sichern

    Die effektive Sicherung der europäischen Außengrenzen ist ein wichtiges Element für ein neues Einwanderungsrecht. Denn wenn wir neue Wege zur Einwanderung auf unseren Kontinent öffnen und es gleichzeitig funktionierende und legale Wege für Asylbewerber und Flüchtlingen gibt, muss die Sicherung der Außengrenzen funktionieren. Dies ist europäische Gemeinschaftsaufgabe und deshalb müssen die entsprechenden Strukturen hierfür geschaffen werden.
  10. Europa braucht den effektiven Schutz von Grundrechten

    Die neuen Technologien werfen auch neue Fragen beim Grundrechteschutz auf: So wie die Erfindung und Verbreitung des Autos zu einer Straßenverkehrsordnung führen musste, um das sozialdarwinistische Prinzip im Straßenverkehr zu beenden, so schreit auch die fortschreitende Digitalisierung nach dem Formulieren von klaren Regeln. Eine Europäische Charta der Grundrechte im digitalen Zeitalter ist ein wirkungsvolles Instrument um diese Regelungen vorzunehmen. Hierdurch werden die Bürger wirkungsvoll geschützt, und die Unternehmen bekommen die Leitplanken, die sie für die Planung ihrer Innovationen brauchen. Überdies würde Europa zeigen, dass auch im 21. Jahrhundert mit ihm als Wertegemeinschaft gerechnet werden muss.

Bei den vorgeschlagenen Reformen wird es Widerstände geben. In gewohnter Manier wird es aus vielen Mitgliedsstaaten tönen, dass das Gute aus den nationalen Hauptstädten und das Schlechte aus Brüssel käme. Aus diesem Grund wird der notwendige europäische Neuanfang kaum durch eine klassische Regierungskonferenz gelingen können, die intransparent und bürokratisch wäre. Überdies ist eine Regierungskonferenz nach altem Muster schädlich, weil sie dem Grundsatz der Demokratie, der Bürgerbeteiligung und der Transparenz widerspricht und damit grundlegend der Intention der vorgelegten Reformen.

Deshalb brauchen wir eine intensive, in aller Öffentlichkeit ausgetragene Debatte darüber, in welchem Europa wir leben wollen. Statt einer Regierungskonferenz hinter verschlossenen Türen brauchen wir ein Verfahren, bei dem offen und transparent diskutiert wird. Das Europaparlament und die nationalen Parlamente könnten der Nukleus hierfür sein. Als Parlamentarier würden sie nicht nur Regierungsvertreter und die Europäische Kommission sondern auch Vertreter der Zivilgesellschaft einladen, um nach den besten konkreten Ideen zu suchen.

So könnte eine Neugründung Europas gelingen. Ein Europa der Bürgerinnen und Bürger.
Wir sollten damit anfangen. Jetzt!

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