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Foto: Sigmar Gabriel im Gespräch
dpa
07.01.2017 | Interview mit Sigmar Gabriel

Den Zusammenhalt stärken

Weggucken, Aussitzen, Abbügeln - die Methode Merkel komme in ihrer dritten Amtszeit an ihr natürliches Ende, erklärt SPD-Chef Sigmar Gabriel im Spiegel-Interview. „Ihr Ziel war, die Wähler einzuschläfern. Jetzt aber haben wir eine hochpolitisierte Wählerschaft. Die will Antworten auf die offenen Zukunftsfragen.“ Gabriel kündigt an, die SPD werde der Personalkampagne der Union einen inhaltlichen und programmatischen Wahlkampf entgegensetzen.

SPIEGEL: Herr Minister, Sie sehen fit und gesund aus; dabei waren Sie vor Weihnachten drei Tage im Krankenhaus. Wie geht es Ihnen?

Gabriel: Sehr gut. Danke der Nachfrage.

SPIEGEL: Es ist seit langem bekannt, dass Sie an Diabetes leiden. Die „Bild“-Zeitung schreibt, Sie hätten sich deshalb den Magen verkleinern lassen. Hat die Öffentlichkeit nicht das Recht zu erfahren, wie es dem Vizekanzler geht?

Gabriel: Die Öffentlichkeit hat natürlich das Recht zu erfahren, ob man gesund und in der Lage ist, sein öffentliches Amt auszuüben. Aber abgesehen davon, dass in dem von Ihnen zitierten Zeitungsbericht ziemlich viel Unsinn behauptet wurde, haben Politiker den gleichen Anspruch auf Schutz Ihrer Persönlichkeitssphäre wie jeder andere auch.

SPIEGEL: Die Bürger sind nun mal an Ihrem Gesundheitszustand interessiert; schließlich haben Sie sich einiges vorgenommen. Sie wollen die SPD zu einem Sieg bei der Bundestagswahl im Herbst führen, obwohl Ihre Partei in den Umfragen um rund 15 Prozentpunkte hinter Kanzlerin Merkel und der Union liegt. Das hört sich nach einer Mission Impossible an.

Gabriel: Wir merken doch alle, wie viel politisch in Bewegung ist. Am Ende wird es darum gehen, welcher politischen Kraft zugetraut wird, das Land besser in die Zukunft zu führen. Und da haben CDU und CSU eigentlich nur Streit zu bieten. Auch wenn Angela Merkel große Verdienste hat.

SPIEGEL: Das klingt jetzt einigermaßen überraschend für einen Parteichef, dessen Aufgabe darin besteht, Merkel im kommenden Herbst aus dem Amt zu jagen. An welche Verdienste denken Sie?

Gabriel: Auch wenn man im politischen Wettbewerb steht, darf man sich doch respektieren. Nehmen Sie die Krise in der Ukraine. Dort haben Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande stellvertretend für ganz Europa zur Befriedung beigetragen. Ich halte deshalb wenig davon, im Wahlkampf so zu tun, als habe sie alles falsch gemacht.

SPIEGEL: Wie wollen Sie dann die Deutschen davon überzeugen, dass sie abgelöst werden muss?

Gabriel: Indem wir nicht über Angela Merkel reden, sondern über das, was die Menschen in Deutschland in ihrem Alltag interessiert, was wichtig ist und was auf uns zukommt. Merkels Prinzip war wegducken, Konflikte verschleiern, keine eigene Position beziehen. Ihr Ziel war, die Wähler einzuschläfern. Jetzt aber haben wir eine hochpolitisierte Wählerschaft. Die will Antworten auf die offenen Zukunftsfragen. Hier muss die SPD ansetzen. Wir werden der Personalkampagne der Union einen inhaltlichen und programmatischen Wahlkampf entgegensetzen.

SPIEGEL: Früher hat die SPD selbst Plakate geklebt mit dem Slogan: „Der Bessere Mann muss Kanzler bleiben“. Mit welchen Themen glauben Sie Merkels Amtsbonus überstrahlen zu können?

Gabriel: Selbst eingeschworene Gegner der SPD geben zu, dass wir die Motoren dieser Regierung sind, weil wir die richtigen Themen und die besseren Leute haben. Viele Menschen sind zutiefst verunsichert. Zugleich sehen sie, wie die Schere zwischen Arm und Reich in den vergangenen 20 Jahren immer weiter auseinandergegangen ist: Mittlerweile gehört den wohlhabendsten zehn Prozent der Bevölkerung 70 Prozent des Vermögens; die Hälfte der Deutschen besitzt dagegen nichts – oder hat Schulden. Für die Sozialdemokratie wird sich der Wahlkampf deshalb um zwei Themen drehen, die eng miteinander zusammenhängen. Es geht darum, Deutschland sicher und gerecht zu machen.

SPIEGEL: Nach den Terrorattacken der vergangenen Monate haben viele Bürger das Gefühl, dass der Staat die Kontrolle verloren hat. So wussten die Behörden früh, wie gefährlich der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz war – trotzdem haben sie ihn nicht stoppen können. Welche Lehren ziehen Sie aus dem Fall?

Gabriel: Es ist offensichtlich, dass die Behörden von Bund und Ländern besser zusammenarbeiten müssen. Auch die Justiz muss sich Fragen gefallen lassen. Es kann nicht sein, dass wir einen Gefährder nach zwei Tagen aus dem Gefängnis entlassen, obwohl er bis zur Abschiebung längstens 18 Monate in Haft bleiben könnte.

SPIEGEL: Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat in dieser Woche seine Vorschläge vorgestellt. Er fordert vor allem eine Stärkung der Kompetenzen des Bundes. Teilen Sie seine Ansicht?

Gabriel: Ich schätze den Kollegen Thomas de Maizière wirklich sehr. Aber von diesen Plänen halte ich wenig: Auf die aktuellen Herausforderungen der Terrorbekämpfung mit einer Diskussion über den deutschen Föderalismus zu antworten ist Symbolpolitik. Damit verschieben wir Entscheidungen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Wenn wir jetzt den Sicherheitsapparat von Bund und Ländern umkrempeln, wie es de Maizière vorschlägt, sind die Behörden jahrelang mit sich selbst beschäftigt. Hinzu kommt, dass der Ruf der CDU nach dem starken Staat ziemlich unglaubwürdig ist. Wer hat denn in den letzten elf Jahren bei der Bundespolizei fast 14.000 Stellen zu wenig bereit gestellt? Das waren ausschließlich CDU-Innenminister.

SPIEGEL: Sie haben in einem Papier ebenfalls für einen starken Staat plädiert. Wollen Sie im Kern nicht das Gleiche wie de Maizière?

Gabriel: Wo es nötig ist, brauchen wir auch härtere Gesetze. Das reicht aber nicht aus. Wenn wir den Kampf gegen den Islamismus und den Terrorismus ernst meinen, dann muss es auch ein kultureller Kampf werden.

SPIEGEL: Was meinen Sie damit?

Gabriel: Wir müssen den Zusammenhalt der Gesellschaft stärken und dafür sorgen, dass Stadtteile nicht verwahrlosen, Dörfer nicht verkommen und Menschen sich nicht immer mehr radikalisieren. Unser Problem sind doch gerade nicht Terroristen, die als Flüchtlinge getarnt einreisen. 50 Prozent der nach Syrien ausgereisten IS-Anhänger sind Deutsche, oft mit deutschen Eltern. Den „home grown“ Terrorismus besiegen wir nicht allein mit dem Strafrecht. Es braucht die Verbindung von Prävention, Stabilität in der Gesellschaft und der Arbeit von Polizei, Nachrichtendiensten und Justiz. Wer nur auf eine dieser drei Säulen setzt, wird verlieren.

SPIEGEL: Der Attentäter von Berlin hatte Kontakte zu salafistischen Hasspredigern. Muss der Staat hier härter durchgreifen?

Gabriel: Absolut, in dieser Frage bin ich für null Toleranz. Salafistische Moscheen müssen verboten, die Gemeinden aufgelöst und die Prediger ausgewiesen werden. Und zwar so bald wie möglich.

SPIEGEL: Das Grundgesetz garantiert aber Religionsfreiheit. Ist Ihnen die Verfassung nicht mehr wichtig?

Gabriel: Wer zur Gewalt aufruft, genießt in Deutschland nicht den Schutz der Religionsfreiheit. Es geht nicht um den Islam, sondern um Feinde unserer Demokratie. Wir haben die Terroristen der RAF ja auch nicht mit Blick auf ihre ideologischen Beweggründe beurteilt, sondern danach, was sie getan haben.

SPIEGEL: Zu den Problemen gehört auch, dass Deutschland sogenannte Gefährder oft nicht abschieben kann, weil ihre Heimatländer sie nicht zurücknehmen.

Gabriel: Wir müssen den nordafrikanischen Ländern die klare Ansage machen: Wer hier nicht ausreichend kooperiert, kann nicht auf unsere Entwicklungshilfe hoffen. Umgekehrt sind wir zu mehr Hilfe bereit, wenn diese Länder mit uns zusammenarbeiten und ihre Staatsbürger zurück nehmen. Auf den ersten Teil dieses Prinzip haben wir uns in der Regierung bis heute allerdings nicht verständigen können, weil der Entwicklungshilfeminister dagegen ist. Der ist übrigens in der CSU.

SPIEGEL: Viele Bürger sehen die Ursache für die angespannte Sicherheitslage in Merkels Flüchtlingspolitik. Teilen Sie die Ansicht?

Gabriel: Es bleibt eine große humanitäre Leistung, dass Deutschland im Herbst 2015 Kriegsflüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern aufgenommen hat. Richtig ist aber auch: Eine solch unkontrollierte Grenzöffnung darf sich nicht wiederholen.

SPIEGEL: War sie ein Fehler?

Gabriel: Es wäre unfair, rückblickend zu sagen, das hätte man alles anders machen müssen. Angela Merkels größter Fehler war, dass sie sich mit niemandem außer den Österreichern darüber abgestimmt hat. Das wäre früheren Kanzlern nie passiert. Dazu kommt etwas anderes: Über Jahre sind CDU und CSU den anderen Ländern gegenüber als Schulmeister aufgetreten. Das alleine ist Grund genug für eine neue Bundesregierung ohne die Union. Wir brauchen auch eine Wende in Europa – und zwar bald.

SPIEGEL: Was für eine Wende?

Gabriel: Weil Deutschland in der Eurozone ausschließlich auf Sparpolitik gesetzt hat, ist Europa tiefer gespalten denn je. Es ist unanständig, dass Staaten wie Frankreich und Italien, die Reformen durchziehen, einen gigantischen Kraftakt veranstalten müssen, um einen halben Prozentpunkt mehr Haushaltsdefizit machen zu dürfen. Wolfgang Schäuble zieht mit Angela Merkels Rückendeckung los, wenn die Griechen mal ein bisschen Überschuss haben und diesen an die ärmsten Rentner verteilen. Helmut Kohl wäre im Leben nicht derart mit anderen europäischen Staaten umgesprungen.

SPIEGEL: Griechenland hält die Auflagen des gemeinsam vereinbarten Reformprogramms nicht ein. Wollen Sie dem Finanzminister vorwerfen, dass er auf geltende Verträge pocht?

Gabriel: Wenn wir in Deutschland bei unseren Reformen die Renten, die Löhne, die öffentlichen Dienstleistungen auch nur in einem Bruchteil von dem zusammen gestrichen hätten, was die Griechen tun, hätte es hier vermutlich einen Volksaufstand gegeben. Oder schauen Sie sich Frankreich an: die haben massive Mehrausgaben, weil sie für Europa in Mali für Sicherheit sorgen. Wenn die Franzosen dann darum bitten, ihnen diese Ausgaben beim Staatsdefizit nicht anzurechnen, werden sie von Deutschland brüsk abgewiesen. Ich habe die Kanzlerin mal gefragt, was eigentlich teurer für Deutschland ist: Wenn Frankreich einen halben Prozentpunkt mehr Defizit machen darf, oder wenn Marine Le Pen Präsidentin wird? Die Antwort ist sie mir bis heute schuldig geblieben. Wohl auch, weil sie dann eine Lebenslüge der Unionsparteien kassieren müsste.

SPIEGEL: Welche?

Gabriel: Dass Europa keine Transferunion werden darf. Die Eurozone ist aber längst eine Transferunion, wenn auch nur heimlich. Die EZB wirft Milliarden Euro auf den Markt, dafür haften die Mitgliedstaaten.

SPIEGEL: Glauben Sie im Ernst, dass Sie im Wahlkampf mit der Forderung punkten können, noch mehr Geld nach Europa zu überweisen?

Gabriel: Ich weiß, dass diese Diskussion extrem unpopulär ist. Ich weiß aber auch um den Zustand der EU. Es ist nicht mehr undenkbar, dass sie auseinanderbricht. Wenn das passieren sollte, werden uns unsere Kinder und Enkel verfluchen. Denn Deutschland ist der größte Profiteur der europäischen Gemeinschaft – wirtschaftlich wie politisch. Ich bin sicher, dass wir das viel offener sagen können. Und die Investitionen in Europa als das erklären, was sie sind: nämlich Investitionen in eine friedliche Zukunft.

SPIEGEL: Die Wut über die politischen Verhältnisse in Europa nährt die nationalkonservativen und chauvinistischen Bewegungen, die derzeit überall in Europa auf dem Vormarsch sind, von Viktor Orbán in Ungarn bis zu Marine Le Pen in Frankreich. Wie kann die Sozialdemokratie dem wachsenden Rechtspopulismus beikommen?

Gabriel: Jedenfalls nicht mit linkem Populismus. Der Populist setzt auf Ressentiments, er verachtet die Demokratie, er hält nichts von ihren Regeln. Dagegen muss die Linke auf die Kraft der Aufklärung setzen, so wie es die SPD – wenn ich das mal in aller Bescheidenheit sagen darf – beim europäischen Freihandelsabkommen mit Kanada praktiziert hat.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Gabriel: Es gab berechtigte Kritik. Aber der Vertrag wurde von rechten wie linken Populisten regelrecht verteufelt, und zwar mit den abenteuerlichsten Verschwörungstheorien. Die SPD hätte leicht Punkte machen können, wenn sie den Pakt abgelehnt hätte. Stattdessen hat sich meine Partei nach einer langen, manchmal quälenden Debatte für das Abkommen ausgesprochen. Mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit.

SPIEGEL: Dennoch hat Sie der sozialdemokratische Altkanzler Gerhard Schröder kürzlich als „demokratischen Populisten“ bezeichnet. War das als Tadel oder als Auszeichnung gemeint?

Gabriel: Ich bin sicher: Er hat das als Lob gemeint. Es geht darum, dass sich demokratische Politiker die Fähigkeit bewahren sollten, dem Volk aufs Maul schauen.

SPIEGEL: Wer die jüngsten Wahlergebnisse analysiert, könnte auf den Gedanken kommen, dass diese Fähigkeit der Sozialdemokratie ein Stück weit abhanden gekommen ist. Hat sich die SPD vielleicht zu sehr auf die materiell Abgehängten konzentriert – während die AfD all jene einsammelt, die sich emotional abgekoppelt fühlen?

Gabriel: Es geht längst nicht mehr nur um materielle Fragen. Es gibt auch eine kulturelle Spaltung in Deutschland. Ich habe mich manchmal gefragt: Was würde wohl in einer SPD-Versammlung passieren, wenn einer der Genossen plötzlich aufstehen und fröhlich erzählen würde, dass er gern Dschungelcamp bei RTL guckt. Muss er dann damit rechnen, dass neben ihm einer sagt: Das ist aber Unterschichtsfernsehen?

SPIEGEL: Vielleicht schätzen Sie die ökonomische Lage auch falsch ein. Schließlich hat die Ungleichheit in den vergangenen drei Jahren aber nicht mehr zugenommen, wiees im jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles heisst. Jagen Sie einem Phantom nach?

Gabriel: Es stimmt, dass sich die Schere aktuell nicht mehr öffnet, das ist auch ein Erfolg der SPD in der Großen Koalition. Aber zuvor ist die Ungleichheit zwanzig Jahre lang gewachsen, und sie erstreckt sich auf immer mehr Lebensbereiche. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf eine Privatschule. Es wird nicht mehr zwischen den Schichten geheiratet. Und wer nicht in der Stadt, sondern auf dem Land lebt, fühlt sich gelegentlich als Mensch zweiter Klasse. Ich fahre gerne nach Usedom in den Urlaub. Umso mehr hat mich erschreckt, dass die AfD dort bei der jüngsten Landtagswahl fast ein Drittel der Stimmen geholt hat. Was meinen Sie, was der wichtigste Grund dafür ist?

SPIEGEL: Das wüssten wir auch gern.

Gabriel: Jedenfalls nicht ein massenhafter Rechtsradikalismus. Die Ursachen waren andere: Wir haben in Deutschland Regeln für alles. Auch dafür, wann wir staatliche Angebote der Daseinsvorsorge wegen zu geringer Einwohnerzahl oder scheinbarer Unwirtschaftlichkeit einstellen. Auf Usedom war das auch der Fall. Am Ende einer Reihe von Ämterschließungen ging es dann um das Krankenhaus. Da hatten die Leute die Nase voll und haben sich überlegt: Wie zeigen wir den Politikern am besten, dass es uns auch noch gibt?

SPIEGEL: Wie lautet Ihre Antwort?

Gabriel: Wer die Spaltung in der Gesellschaft überwinden will, darf so etwas nicht zulassen. In ländlichen Regionen muss ein ordentliches Leben mit Schulen, ärztlicher Versorgung und Nahverkehr möglich bleiben. Und in der Großstadt müssen wir für mehr bezahlbaren Wohnraum sorgen. Auch das ist ein Grund, warum es der helle Wahnsinn ist, wenn CDU und CSU jetzt Steuersenkungen in Milliardenhöhe auch für die Wohlhabenden versprechen.

SPIEGEL: Die Platte kennen wir schon. Die SPD will wieder Geld ausgeben.

Gabriel: Erstmal wollen wir, dass in Deutschland weiter Geld verdient wird. Dafür aber werden wir in Bildung, Forschung, Infrastruktur investieren müssen. Jeder kluge Unternehmer investiert, um erfolgreich zu bleiben. Die Frage ist doch, woher soll das Geld kommen? Jedenfalls nicht aus neuen Schulden. Aber aus der Besteuerung der Finanzmärkte, aus dem Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuerdumping in Europa durchaus.

SPIEGEL: Einige Gewerkschafter fordern derzeit, das Rentenniveau auf 50 Prozent anzuheben. Wenn wir Sie richtig verstehen, werden Sie sich diese Position nicht zu eigen machen.

Gabriel: Ich bin dafür, nur das zu versprechen, was man halten kann. Gebrochene Wahlversprechen sind kleine Verbrechen an der Demokratie. Wenn die Gefahr bei CDU/CSU darin liegt, zu hohe Steuersenkungen zu versprechen, dann liegt sie im linken Spektrum darin, zu große Sozialleistungen in die Wahlprogramme zu schreiben.

SPIEGEL: Welche Konsequenzen hat das für Ihre Rentenpolitik?

Gabriel: Andrea Nahles hat völlig recht: Wir müssen verhindern, dass die Rente so weit absackt wie bisher geplant. Aber wir müssen uns dabei auf realistische Größenordnungen verständigen, die wir unter anderem durch eine bessere Förderung der privaten Vorsorge sowie durch den Ausbau von Tarifverträgen und Betriebsrenten erreichen – und vor allem dadurch, dass wir für mehr und besser bezahlte Jobs sorgen.

SPIEGEL: Der Populismus ist nicht nur in Europa auf dem Vormarsch; er zieht in Gestalt von Donald Trump bald auch ins Weiße Haus ein. Was bedeutet das für die deutsche Politik und für Ihre Wahlkampf-Strategie?

Gabriel: Trump ist der gewählte amerikanischer Präsident, wir müssen mit ihm zusammenarbeiten. Zugleich sollten wir deutlich sagen, wenn wir etwas falsch finden; in dieser Frage bin ich mit der Kanzlerin völlig einig. Was den Wahlkampf angeht, ist meine Schlussfolgerung: Wenn man die Arbeiter in Detroit vernachlässigt, werden einem die Hipster in Kalifornien nicht helfen.

SPIEGEL: Was heisst das für Deutschland?

Gabriel: Sich für die Industriearbeiter einzusetzen. Von der Stahlindustrie, die man gegen unfairen Wettbewerb aus China verteidigen muss, bis zur Automobilindustrie. Ich bin dagegen, dass man mal eben so erklärt, wir steigen morgen aus der Braunkohle aus, ohne den Menschen in der Lausitz und im rheinischen Revier zu sagen, wo sie dann Arbeit finden. So wie das heute leider von den Grünen bis zur Linkspartei populär ist.

SPIEGEL: Kann man so Klimapolitik machen?

Gabriel: Ja, natürlich. In den betroffenen Regionen wissen ja auch alle, dass die Braunkohle endlich ist. Aber die Betroffenen fordern zu Recht eine Antwort auf die Frage, worin die Alternative besteht.

SPIEGEL: Das Problem ist nur, dass die SPD möglicherweise bald nicht mehr in der Lage ist, solche Positionen durchzusetzen. Kann die SPD angesichts ihrer schwachen Umfragewerte den Anspruch erheben, die Regierung zu führen?

Gabriel: Warum nicht? Wir werden antreten und sagen, wofür wir stehen. Dann entscheiden die Wählerinnen und Wähler über die Stärke der Parteien im Parlament. Erst dann wissen wir, wer dabei eine Mehrheit organisieren kann und wer nicht. Und vor allem wofür diese Mehrheit stehen soll

SPIEGEL: Das klingt jetzt, als würden sie zur Not auch wieder in eine Große Koalition unter Führung Merkels flüchten.

Gabriel: Wir wollen keine Neuauflage der Großen Koalition. Wenn es die zu oft gibt, dann haben die Unzufriedenen nur die Wahl zwischen links- oder rechtsaußen. Angesichts des Höhenflugs der AfD kann ich aber leider nicht ausschließen, dass im nächsten Herbst nur ein Bündnis von Union und SPD eine regierungsfähige Mehrheit hat. Aber wir werden alles tun, um das zu verhindern.

SPIEGEL: In der SPD setzen derzeit viele auf Rot-Rot-Grün. Sie auch?

Gabriel: Das ist keinesfalls die einzige Konstellation, die denkbar ist. In Rheinland-Pfalz regiert die SPD zusammen mit Grünen und FDP. Also letztlich mit zwei liberalen Parteien, einer bürgerrechtsliberalen Partei und einer wirtschaftsliberalen. Aber natürlich kann ich mir auch eine rot-rot-grüne Koalition vorstellen, wenn sich daraus eine stabile Regierung formen lässt. Das allerdings liegt ausschließlich an der Linkspartei. Die muss sich entscheiden, ob sie regieren oder Fundamentalopposition bleiben will. Positionen wie der Austritt aus dem Euro oder der Bereitschaft, zur Not sogar bei Völkermord zuzusehen, weil sich Deutschland an keinem Uno-Mandat beteiligen dürfe, sind mit der SPD nicht zu machen.

SPIEGEL: Damit es für eine sozialdemokratisch geführte Regierung reicht, müsste die SPD aber deutlich stärker werden als zur Zeit. Ihr Vize Olaf Scholz hat mal 30 Prozent als Marke ausgegeben. Ist das auch Ihr Ziel?

Gabriel: Richtig ist, dass wir deutlich zulegen müssen. Und das werden wir.

SPIEGEL: Nach allem, was Sie uns heute über ihr politisches Programm und ihren Gesundheitszustand gesagt haben: Dürfen wir davon ausgehen, dass Sie als Kanzlerkandidat der SPD antreten werden?

Gabriel: Ich bin sehr stolz auf meine Partei, dass wir unseren Fahrplan in dieser Frage so konsequent eingehalten haben. Wir haben verabredet, dass wir über die Kanzlerkandidatur gemeinsam am 29. Januar entscheiden. Dabei bleibt es.