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Aktuelles

Foto: Lars Klingbeil
Tobias Koch
29.04.2019

Diese Konservativen werden unser Europa nicht retten

Lars Klingbeil

Entscheidungswahl. Schicksalswahl. Jahrhundertwahl. Superlative gibt es viele für diese Europawahl, die nun in weniger als vier Wochen vor der Tür steht. Nicht schlecht für eine Wahl, an der sich vor fünf Jahren weniger als die Hälfte der deutschen Bevölkerung beteiligte. Aber es stimmt: Diese Wahl ist entscheidend. Für Europa. Für Deutschland. Für uns alle.

Fassungslos haben viele Menschen in den letzten Monaten auf das geschaut, was sich in Großbritannien abspielte. Der Brexit ist ein Drama in unzähligen Akten. Es ist die größte Pleite der jüngeren europäischen Politik. Der Brexit wird Arbeitsplätze vernichten und den Wohlstand von vielen in Frage stellen. Er lässt scheinbar längst überwundene Spannungen auf der Insel wiederaufleben. Der Brexit gefährdet den Zusammenhalt und er schwächt am Ende beide Seiten. Nicht nur Großbritannien, sondern auch die Europäische Union, die nicht nur viele Freunde, sondern auch die zweitgrößte Volkswirtschaft verliert.

Der Brexit und das gesamte Chaos haben sichtbar gemacht, was passiert, wenn Rechtspopulisten die Oberhand gewinnen. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite stehen die verantwortlichen Parteien in Großbritannien, die es nicht geschafft haben, eine Brandmauer gegen den offenen Angriff von rechts hochzuziehen. Im Gegenteil. Es waren die Konservativen unter David Cameron, die mit einer Mischung aus verfehlter Machttaktik und Verdruckstheit die Europäische Einheit opferten. Es waren Konservative, die sich nicht rechtzeitig abgegrenzt haben, die sich treiben ließen und die zuvor mit ihrer unsozialen und technokratischen Politik dafür gesorgt haben, dass das Gift der Rechtspopulisten in die Breite der Gesellschaft einsickern konnte. Heute ist das britische Volk hoffnungslos gespalten. Das Vertrauen in das gesamte politische System Großbritanniens droht, auf Dauer zerstört zu bleiben.

Fremdenfeindlichkeit und Nationalchauvinismus als Markenkern

All das ist kein Zufall. Wir beobachten die Orientierungslosigkeit der Konservativen auf ähnlich erschreckende Weise in den USA. Mit Donald Trump hat sich ein lupenreiner Rechtspopulist an die Spitze des mächtigsten Landes der Welt gesetzt. Auch er hinterlässt die Republikaner, eine vormals stolze konservative Partei in den USA, in Trümmern. Fremdenfeindlichkeit, Nationalchauvinismus und Lügen sind zum neuen Markenkern geworden.

Und auch die deutschen und europäischen Konservativen sind gerade dabei die gleichen Fehler zu begehen, wie ihre Kollegen in den USA und Großbritannien. Die Liste der Beispiele ist lang. Die EVP lässt sich von Mini-Trump Viktor Orbán die Bedingungen für einen schmutzigen Deal diktieren. Seiner Fidesz-Partei stehen weiter alle Türen offen, Teil der Konservativen im Europäischen Parlament zu bleiben. Es geht um Macht, nicht um Haltung, wie auch Horst Seehofer beweist, der Orbán öffentlich als Demokraten verteidigt. Ralph Brinkhaus, Unionsfraktionschef im Bundestag, ruft dazu auf, eine AfD-Kandidatin zur Bundestagsvizepräsidentin zu wählen. EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber startet nicht mit der deutschen Bundeskanzlerin, sondern mit Sebastian Kurz, der in Österreich die rechtspopulistische FPÖ an die Regierung gebracht hat, in den Wahlkampf. Jene FPÖ, die gerade mit der AfD, Salvini und Le Pen ein antidemokratisches Bündnis gegen Europa schmiedet. Appeasement wohin man schaut.

Wer hat die Kraft, die europäische Idee zu retten?

Blicken wir in diesem Kontext also auf die Europawahl Ende Mai. Die Wahl, die alle Parteien von Links bis Rechts als Schicksalswahl bezeichnen.

Seit 15 Jahren wird die EU von konservativen Kommissionspräsidenten geführt. Seit 15 Jahren haben konservative, liberale und rechte Parteien eine Mehrheit im Europäischen Parlament. Seit über einem Vierteljahrhundert verwalten vor allem Konservative den Europäischen Binnenmarkt, der 1993 vom französischen Sozialisten Jacques Delors vollendet wurde.

Der Binnenmarkt war damals die sozialdemokratische Reaktion auf eine langjährige Krise in Europa. Durch die Ölkrise hatte sich die Inflation verschärft, Preise und Arbeitslosigkeit stiegen an. Europa war damals die Antwort. Das Zusammenrücken hat damals geholfen, die Krise zu überwinden. Heute geht es wieder um die Frage, wer die Kraft und die Vision hat, die europäische Union in das nächste Jahrzehnt zu führen und damit die europäische Idee zu retten?

Denn selbstverständlich ist das nicht. Die Folgen der letzten großen Wirtschaftskrise sind in vielen Ländern noch nicht überwunden, wir befinden uns mitten in einer technologischen Revolution, die einen Umbruch für Wirtschaft und Gesellschaft erzwingt. Die Unruhe in der Gesellschaft nimmt zu. Die USA wählten Trump, die Briten den Brexit, in Frankreich schaffte es Marine Le Pen bis in die Stichwahl. Überall in Europa erstarken die Rechtsextremen und Populisten, die nun den Brexit-Moment für den gesamten Kontinent wollen. Die Folgen: Spaltung, Chaos und die Rückkehr in nationale Egoismen zum Nachteil der Menschen in Europa, deren Jobs und deren Sicherheit maßgeblich von der EU abhängen. Die Ungleichheit in der EU ist unter konservativer Führung gewachsen.

Die Europawahl ist eine Richtungswahl

Es ist richtig. Die Europawahl ist eine Richtungswahl. Eine Entscheidungswahl.

Und trotz all der beschriebenen Veränderungen und Fliehkräfte, die auf Europa wirken, legt die Union in Deutschland auch in diesem Jahr das gleiche kalte, technokratische Programm vor, wie in den letzten 15 Jahren. Das Programm, das viele Probleme erst ermöglicht hat, die Europa heute so angreifbar machen. Ein Flugzeugträger hier, irgendwas mit Märkten und Konzernen dort. Bloß kein Ende des Einstimmigkeitsprinzips, das Europa an relevanten Stellen lähmt, etwa bei der Besteuerung von globalen Konzernen. Bloß keine Macht abgeben zum Wohle Europas. Und vor allem bloß nichts mit Soziales.

Ich weiß woher das kommt. Ich habe mit den gleichen Wahlforschern und Strategen zusammengesessen, die angeblich genau wissen, "was das Volk will". Und da heißt es eben immer wieder: „Bloß nichts mit Soziales.“ Das könnten die anderen Parteien nutzen, um vor einer angeblichen Transferunion zu warnen – selbst wenn es darum gar nicht geht. Allein das Thema reiche, um sich angreifbar zu machen. Was für ein ängstlicher Quatsch.

Zusammenhalt ist das Gegengift

Ich bin froh, dass sich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in ganz Europa endlich trauen, sich über diesen Irrglauben hinwegzusetzen. Wer Europa verteidigen will, wer die liberale Demokratie verteidigen will, und selbst wer nur die Idee des Binnenmarkts verteidigen will, der Millionen Menschen in Deutschland Jobs im Mittelstand und in der Industrie ermöglicht, der muss mit der nationalstaatlichen Taktiererei aufhören und konsequent in den sozialen Zusammenhalt Europas investieren. Denn Zusammenhalt ist das Gegengift gegen Angriffe von rechts. Davon bin ich fest überzeugt.

Neue Perspektiven für junge Menschen, die in vielen Ländern Europas kaum noch Chancen sehen. Ein europäischer Mindestlohn, der Drückerlöhne in Europa verhindert und in Deutschland bei 12 Euro liegen würde. Eine konsequente Mindestbesteuerung von Konzernen, um Geld für soziale und nachhaltige Investitionen zu ermöglichen und die Steuervermeidung zu beenden. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Männer und Frauen überall in Europa. Eine Ergänzung der europäischen Verträge um soziale Rechte. Eine Klimapolitik, die klimafreundliche Innovationen von der Wirtschaft einfordert, statt den europäischen Arbeitern immer mehr Kosten aufzudrücken. Interessanterweise hat das auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron längst verstanden – auch wenn er sicher kein Sozialdemokrat ist.

Echte politische Alternative

So stehen bei dieser Europawahl tatsächlich echte politische Alternativen zur Wahl. Endlich, möchte man mit Blick auf die zähen letzten Bundestagswahlen sagen.

Und damit das klar ist: Konservative sind nicht rechtspopulistisch. Sie unterscheiden sich von den Menschenfeinden von rechts, die die größte Gefahr für Europa und damit für unseren Wohlstand und den Frieden darstellen, von dem meine Generation ihr Leben lang profitiert hat. Aber wir sehen auch wie die Abwehrkräfte der konservativen Politiker gegenüber rechten Hetzern und Spaltern erschlaffen. Auch hierzulande und in Europa, direkt vor unseren Augen. Genau wie in den USA. Genau wie in Großbritannien. Zu viele Laue, zu viele Bürokraten haben inzwischen in der Ära nach Kohl und dem bevorstehenden Ende der Ära Merkel bei den Konservativen das Sagen. Und diese Lauen werden unser Europa nicht retten.

(Der Namesbeitrag von Lars Klingbeil erschien am 29. April 2019 auf welt.de)