arrow-left arrow-right nav-arrow Login close contrast download easy-language Facebook Instagram Telegram logo-spe-klein Mail Menue Minus Plus print Search Sound target-blank X YouTube
Inhaltsbereich

Aktuelles

10.03.2016

Wir brauchen mehr Solidarität

Sigmar Gabriel

Vielleicht verstehen wir erst jetzt, mitten in der Flüchtlingskrise, das ganze Ausmaß der Globalisierung. Regionale Konflikte haben globale Konsequenzen – auch bei uns in Deutschland. Gleichzeitig wissen immer mehr Menschen in den von Armut, Korruption und Bürgerkrieg zerrissenen Staaten ganz genau, wie sich weltweit der Wohlstand verteilt und wo sich sicher leben lässt. Deutschland und Europa müssen sich mit ihrer Rolle in der Welt auseinandersetzen, mit unseren Interessen und mit unserer Verantwortung. Dafür ist vor allem Ehrlichkeit gefragt.

Ehrlichkeit über die Grenzen unserer Möglichkeiten

Der Wille und das Potenzial unseres Landes, Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren, sind groß, aber nicht grenzenlos. Wir können in einem Jahr eine Million Menschen versorgen, aber nicht jedes Jahr. Denn unsere Verantwortung für Flüchtlinge endet nicht, wenn sie unser Land erreicht haben, sondern sie beginnt dann erst. Gefüllte Turnhallen und lange Warteschlangen dürfen nicht der Normalzustand sein. Nach der Erstaufnahme beginnt die Integration. Das ist die größte Herausforderung.

Zu dieser doppelten Integrationsaufgabe gehört es, dass man die Alltagsthemen vieler Menschen nicht aus dem Auge verliert, die älter sind als die Aufgaben in der Flüchtlingsintegration. Bildung, Wohnungsbau, Renten, innere Sicherheit und Polizei gehören dazu. Geld in den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu investieren, ist kein Ablasshandel für die Aufnahme von Flüchtlingen. Sondern erst die Sicherung des sozialen Friedens und der Teilhabe im eigenen Land schafft Aufnahmebereitschaft für andere. Wer das nicht will, befördert die Abwendung von unserer Gesellschaftsordnung. Und zu viele haben sich bereits abgewandt. Man darf den Parolen der Rechtsradikalen nie nachgeben! Aber man muss Gerechtigkeit durchsetzen, damit kein Neid begründet wird, auf den diese Rechtsradikalen hoffen.

Ehrlichkeit über die beschränkten Möglichkeiten nationaler Politik

Die Bilder von der griechisch-mazedonischen Grenze zeigen, was passiert, wenn eine nationale Grenze geschlossen und internationale Solidarität abgebaut wird. Zur Ehrlichkeit gehört, dass alle jetzt beschrittenen Wege der Schließung nationaler Grenzen nur dazu führen, dass die Erstaufnahmeländer an den Außengrenzen der EU unter der Last in die Knie gehen und dass die Flüchtlinge sich neue Wege durch Europa suchen. Wirkliche Lösungen gibt es nur in einem europäischen System von Steuerung, Verteilung und Solidarität. So schwer es auch sein mag, das aktuell zu erreichen.

Ehrlichkeit über die notwendige Kontrolle der europäischen Grenzen

Um ein grenzenloses Europa im Innern zu erhalten, muss Europa seine Außengrenzen schützen. Diese Politik der Grenzsicherung findet längst statt. Die oftmals geforderte „Wende“ weg von der Politik der unkontrolliert geöffneten Grenzen wurde längst vollzogen. Wenn wir jetzt darüber verhandeln, dass die Türkei geflüchtete Menschen zurücknehmen und die Küste bewachen soll, gehört das zur Kontrolle und Steuerung, die wir brauchen. Diese Politik ist richtig, denn wer Offenheit und Solidarität will, benötigt immer eine verlässliche Ordnung, im Interesse der Menschen, die in Europa leben und im Interesse eines realistischen Signals an Menschen, die nach Europa wollen.

Ehrlichkeit über die Kosten

Die deutsche Politik muss sich dringend darum kümmern, der Verantwortung für die Menschen in unserem Land unter den veränderten Vorzeichen gerecht zu werden - und zwar der Verantwortung für alle Menschen. Wir müssen den Wert der Solidarität wieder groß schreiben, in Europa, aber auch in Deutschland selbst. Wir brauchen ein neues Solidarprojekt. Wir Sozialdemokraten kennen das: wann immer wir soziale Investitionen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt fordern, sind es diejenigen, die lautstark „Sozialneid“ rufen, die die Alltagssorgen vieler Menschen nicht kennt. Wer mehr als 5.000 € im Monat verdient, kennt die Sorgen der Kleinstrentner nicht, die nach 40 Jahren weniger Rente bekommen als jemand, der gar nicht gearbeitet hat. Und wer im luxuriösen Großstadt-Loft wohnt, braucht keinen sozialen Wohnungsbau.

Ehrlichkeit über Ängste in unserer Bevölkerung

Viele Menschen in Deutschland sind verunsichert, kulturell und sozial. Das rührt her von einer tief sitzenden Skepsis gegenüber der „politisch-medialen Klasse“ und gegenüber den Entscheidungs­strukturen in unserer Demokratie. Bei ihnen löst Zuwanderung zusätzliche Ängste und Widerstand aus. Gegen Unsicherheit und Angst gibt es keinen Masterplan. Diesen Eindruck sollte niemand vermitteln. Aber es gibt einige unverzichtbare Maßnahmen: Die Verringerung der Flüchtlingszahlen gehört dazu, aber auch die Schaffung von mehr innerer und sozialer Sicherheit. Beides sind Kernaufgaben eines starken Staates. Stark nicht im Sinne von autoritär oder patriarchalisch, sondern im Sinne von handlungsfähig.

In den letzten Jahren war das Gegenteil populär: Den Staat zu schwächen, seine Aufgaben zu privatisieren und ihm die Finanzmittel für Lehrer, Polizisten und die Infrastruktur zu entziehen. Es reicht nicht aus, Zuwanderung und Integration mit Gesetzen von oben zu steuern, man muss sie auch von unten aus der Gesellschaft mit Leben füllen.

Die Bundesregierung will in diesem Monat die Eckpunkte für den Haushalt 2017 beschließen und damit die Weichen für die Zukunft stellen. Sparsamkeit ist eine Tugend. Aber wer notwendige Schritte versäumt, muss dafür später teuer bezahlen. Investieren ist besser und billiger als reparieren. Sozialer und gesellschaftlicher Zusammenhalt mögen einen Preis haben. Aber beides ist auch von unschätzbarem Wert.