arrow-left arrow-right nav-arrow Login close contrast download easy-language Facebook Instagram Telegram logo-spe-klein Mail Menue Minus Plus print Search Sound target-blank X YouTube
Inhaltsbereich

Aktuelles

Foto: Sigmar Gabriel
dpa
19.08.2016 | Sigmar Gabriel

„Dem entgrenzten Kapitalismus Regeln setzen“

Sigmar Gabriel

Unmut, Unruhen und der Aufstieg des Populismus: Der globalisierte Kapitalismus durchläuft eine Zeitenwende. Er muss sozial dazulernen - oder er wird scheitern. Ein Namensbeitrag von Sigmar Gabriel im "Handelsblatt".

Bei all ihrer Rationalität ist unsere moderne Welt noch immer von Mythen geprägt. Der Glaube daran ist stark. Denn er verspricht Orientierung und Halt in einer immer haltloser erscheinenden Zeit. Ein Mythos der Moderne bleibt der Nationalismus. Nationalisten sind Gläubige, die behaupten, alle kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen seien durch isolationistische Kraftmeierei beherrschbar.

Sie sind leicht reizbar, weil auch die größte Nation im Vergleich zur Welt klein ist. Sie müssen sich also ständig aufblasen und ihr Land als Heilsbringer größer erscheinen lassen als es ist. Das ist ein ebenso anstrengendes wie zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Keine entwickelte Volkswirtschaft überlebt ohne den Anschluss an den Weltmarkt. Keine Verachtung gegen internationale Pläne zur C02-Minderung schafft den Klimawandel aus der Welt. Kein Zaun ist hoch genug, um die Migrationsbewegungen unserer Zeit in den Griff zu bekommen. Die Probleme der Welt kann kein nationalistischer Gernegroß allein lösen.

Wenn wir verstehen wollen, warum der Nationalismus trotzdem in allen Teilen der Welt – ob USA, Europa oder Asien – wieder Anhänger sammeln kann, müssen wir eine zweite Fabel der Moderne hinterfragen: Der Mythos der Globalisierung liefert gewissermaßen das Gegenbild zum nationalstaatlichen Kontrollanspruch. Auch seine Propheten sind hochmütig. Sie neigen zur Belehrung und zur Entmutigung. „Lasst alle Hoffnung fahren, eure Regeln im globalen Zeitalter behalten zu können“, heißt es in der üblichen Globalisierungserzählung. Die Naturgesetze des Marktes drängen alles und jeden beiseite. Wer sich nicht fügt, geht unter. „Pass Dich an!“ lautet der neue kategorische Imperativ dieser Glaubenslehre.

Die Globalisierung als wirtschaftliche Strategie und politisches Konzept hat sicher eine weit größere Verankerung in der Rationalität als die verschiedenen Strömungen des ethnisch-kulturellen Isolationismus. Sie bewertet Menschen nicht nach Hautfarbe, Religion oder Nation. Sie baut keine Mauern und Eisernen Vorhänge. Sie öffnet Grenzen, physisch wie intellektuell, und erweitert die Freizügigkeit und das Wissen der Menschheit.

Doch dass der Preis für all das die Selbstaufgabe sein soll, dass keine zivilisatorischen Regeln Bestand haben sollen, die Natur- und Sozialräume vor ökonomischer Verwertung schützen, riskante Technologien kontrollieren, kollektive Solidarität und Mitbestimmung der wirtschaftlich Schwächeren ermöglichen und überhaupt demokratische Institutionen und Entscheidungen höher setzen als ungebremst profitgetriebene Marktkräfte – eine solche Kapitulation ist undenkbar. Das spürt jeder, der auch nur einen Funken politischer Leidenschaft besitzt. Der globalisierten Finanzkapitalismus unserer Tage kassiert die Unabhängigkeitserklärungen der großen demokratischen Revolutionen, die Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte und die Errungenschaften der Arbeiterbewegungen. Er spaltet. Er übertreibt. Er riskiert den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaften.

„Pass Dich an!“ ist kein Satz der Hoffnung, sondern ein Satz der Angst. Politisch stößt er uns zurück in Fremdbestimmung. Und der Satz rüttelt am Wesenskern unserer gesellschaftlichen Entwicklung seit der Aufklärung: an der Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben. Nicht wie wir leben wollen, sondern wie wir (angeblich) leben müssen, ist die Botschaft dieses Satzes. Und diese Botschaft ist - zu Ende gedacht - ebenso antiliberal antidemokratisch und unsozial wie die der Nationalisten. Enteignete Kleinbauern, entrechtete Wanderarbeiter, militante Kapitalismuskritiker und Umweltschützer schreiben sich das Recht der Selbstbestimmung auf die Fahnen. Das gibt ihnen die politische Kraft. Sie wollen sich durch die globale Herrschaft des Kapitals nicht klein machen lassen. Sie wollen nicht Knechte sein. Und weil der Befehl zur Anpassung stolze Menschen nun mal zum Widerstand reizt, haben dann auch die Rechtspopulisten und Nationalisten leichtes Spiel. Wie Wölfe im Schafspelz versuchen Nationalisten diese globalisierungskritische Stimmung für sich zu nutzen. Sie verbreiten nicht Hoffnung, sondern Fremdenhass und Antisemitismus. Sie suchen nicht nach Lösungen, sondern nach Sündenböcken. Sie versuchen die erkennbaren Ungerechtigkeiten des herrschenden Wirtschaftssystems den Flüchtlingen und Ausländern, notfalls auch schlicht dem Nachbarn zuzuschreiben. Sie betreiben Klassenkampf an die falsche Adresse.

So gesehen sind Trump, Putin, Erdogan, Le Pen, Wilders oder die AfD nur unterschiedlich erfolgreiche Ausprägungen einer autoritären globalen Entwicklung. Sie eint eine Perversion des Solidaritätsbegriffes: Solidarität nur noch für das scheinbar homogene eigene „Volk“ und Entsolidarisierung mit allen anderen. Und zur Durchsetzung dieser „Wir gegen die“ Ideologie wird auf autoritäre und nationalistische Regierungsformen gesetzt. Das ist einfacher als sich mit den tatsächlichen Widersprüchen auseinander zu setzen: denen zwischen Macht und Ohnmacht und zwischen arm und reich. Denn die alten sozialen Fragen tauchen in der Globalisierung von Wirtschaft und Politik ja nur in neuem Gewande auf. Insofern ist der erneute Kampf um die angemessene Antwort auf die sozialen Fragen wie schon einmal im 19. und 20. Jahrhundert auch ein erneuter Kampf gegen autoritäre und unterdrückende Machtapparate.

Es geht erneut um das Erkämpfen von sozialen Regeln für Märkte, die zu Übertreibung und zur Gnadenlosigkeit neigen. Es geht aber auch um das Erringen - manchmal auch nur um das Verteidigen - der demokratischen Substanz. Beide Kämpfe – die sozialen und die demokratischen – sind unter den Bedingungen der Globalisierung weitaus schwieriger zu führen. Als beim ersten Treffen der internationalen sozialdemokratischen Arbeiterassoziation 1898 in Paris der 1. Mai als „Kampftag der internationalen Arbeiterbewegung erfunden wurde, lautete der Slogan: „Der Kapitalismus ist national organisiert – dagegen hilft nur die internationale Solidarität der Arbeiterbewegung.“ Heute, knapp 120 Jahre später, stellen wir fest: das einzige, was wirklich international organisiert ist, ist der Kapitalismus.

Politische Institutionen finden keinen Respekt mehr, wenn sie sich anonymen Sachzwängen ergeben. Der demokratische Staat und die ihn tragenden Parteien dürfen sich bei Strafe ihres Untergangs nicht mit Verhältnissen arrangieren, die für diejenigen, die wenig Macht besitzen, harte Arbeitsbedingungen aushalten und dafür bei großer Unsicherheit geringe Löhne bekommen, unakzeptabel sind. Wer Gerechtigkeit mit dem kalten Verweis auf die Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandorts abtut, nährt die Wut. Die Mythologie der alternativlosen Deregulierung taugt nicht für die Zukunft. So wenig wie im Feudalismus die Privilegien herrschender Klassen auf Dauer hinnehmbar waren, so wenig kann ein System überleben, das überall Regeln und Rechte zertrümmert und nur den Stärksten nutzt. Insofern ist die Globalisierungskritik Zeichen eines neuen historischen Fortschritts. Die Welt ist aus den Fugen geraten. Wir erleben eine Zeitenwende. Es stimmt, dass die Globalisierung bis heute ein starker Motor der wirtschaftlichen Entwicklung ist. Seit 1950 ist die Weltwirtschaft im Durchschnitt zwischen 2,5 und 5,5 Prozent jährlich gewachsen. Der Anteil der Menschheit, der in Armut lebt, sinkt. In China sind seit dem Greifen der Wirtschaftsreformen von Deng Xiaoping mehr als eine halbe Milliarde Menschen der Armut entkommen.

Doch zur zweischneidigen Bilanz der Globalisierung gehören die harten Gegensätze zwischen Gewinnern und Verlierern. Nach Berechnungen von Oxfam besitzt das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung fast 50 Prozent des weltweiten Vermögens. Die Vereinten Nationen berichten von noch immer 1,2 Milliarden Menschen in extremer Armut.

Die wirtschaftlich am wenigsten entwickelten Weltregionen sind auch die politisch instabilsten. Staatszerfall, Gewaltherrschaft, Terrorismus, Krieg und Bürgerkrieg sind in Afrika, der arabischen Welt, Südasien, Lateinamerika – Regionen mit dem global niedrigsten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf – stark ausgeprägt. Die Flüchtlings- und Migrationsbewegungen unserer Zeit haben immer dieselbe Richtung. Die Menschen fliehen von politisch instabilen in rechtsstaatlich stabile Länder, von perspektivlosen in zukunftsfähige Gesellschaften, von Arm zu Reich. Wachsende Ungleichheit in einer globalisierten Welt, in der kein Land mehr isoliert lebt, führt zwangsläufig zu erhöhter Migration mit allem, was dazu gehört: Und nur ein kleiner Teil der Millionen, die sich auf den Weg machen, können legale Einwanderungsmöglichkeiten nutzen. Der weit größere Teil findet sich in Lagern, auf Schlepperbooten, vor Grenzzäunen oder am Ziel ihrer Träume, aber unsicher und ohne Aufenthaltsrecht. Diese Menschheitstragödie, die im Schatten der wirtschaftlichen Globalisierung entstanden ist, kann eine angemessene politische Antwort nur auf globaler Ebene finden. Mit gleichem Recht ließe sich hier über den Klimawandel, den Naturverbrauch oder die zunehmenden weltweiten Epidemien sprechen. Wir verlassen eine Epoche, in der einzelne Nationalstaaten immer defensiver für Sicherheit zu sorgen versuchen, während der globale Wirtschafts- und Sozialraum ein Umfeld der Deregulierung, der Destabilisierung und der Absenkung von sozialen Normen und Standards schafft. Es kommt in dem vor uns liegenden Jahrzehnt ganz offenkundig darauf an, eine globale Ordnung zu etablieren, die Bedürfnisse nach Sicherheit und Gerechtigkeit befriedigen kann. Sicherheit und Gerechtigkeit für alle oder doch möglichst viele. Oder wie es der verstorbene katholische Bischoff von Hildesheim, Josef Homeyer, unmittelbar nach dem Attentat vom 11. September 2001 weitsichtig formulierte: „Das Ziel der Globalisierung muss Gerechtigkeit für alle werden und nicht Reichtum für wenige.“

Der Westen reagiert trotz intellektueller Einsicht auf diese größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts verunsichert und uneinig. Nordamerika und Europa sind seit der kolonialen Ära die Haupttreiber und -profiteure des Weltmarktes. Doch Ostasien, der pazifische Raum, China und Indien schließen auf. Ein Exklusivanspruch des Westens auf Wohlstandsprivilegien und politische Dominanz wird immer weniger hingenommen. Die Frage ist nicht mehr, ob die Globalisierung in eine neue Phase der politischen Interessenkonflikte eintritt. Die Frage ist, mit welchen Werten, Ideen und Instrumenten diese Konflikte gelöst werden.

Wir haben die Wahl: Dort das geopolitisch-aggressive Modell, das Einflusssphären absteckt und militärisch unter Kontrolle zu bringen versucht. Es gehört zur alten Welt des 19. und 20. Jahrhunderts. Es würde den Planeten in den kommenden Jahren zu einem sehr gefährlichen Ort machen.

Auf der anderen Seite das Modell einer sozial verfassten Teilhabe-Gesellschaft, die aus der Tradition der Aufklärung ihre Kraft bezieht. In ihrem Zentrum steht die Idee einer fairen und deshalb allgemein zustimmungsfähigen Ordnung. Die Idee universeller Rechte, die jedem Menschen unveräußerlich zu eigen sind. Die Idee einer auf allgemeinen Prinzipien des sozialen Ausgleichs und der Gerechtigkeit fußenden Rechtsgemeinschaft.

Die wichtigen westlichen Mächte zögern jedoch, dieser Idee in ihrer internationalen Politik zu folgen. In den USA und in Europa sind gegenläufige Tendenzen stark geworden. Ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat sucht mit chauvinistischen Drohungen nach Anhängern. In Frankreich dreht sich die politische Debatte immer mehr um die Themen und die Erfolgsaussichten von Marine Le Pens rechtsradikalem Front National. Großbritannien schrumpft sich selbst. In Italien droht der Anti-Europäer Grillo und in anderen EU-Mitgliedsstaaten sitzen die Rechtspopulisten längst in der Regierung. Deutschland ist – trotz einer AfD mit 15 Prozent – dagegen ein Hort der Stabilität. Angesichts der unkontrollierten Zuwanderung von mehr als einer Million Flüchtlinge mit allen Risiken und Konflikten, auf die wir gerade nach der Welle der Euphorie über „Refugees welcome“ aufmerksam werden, ist der Zuspruch zum Rechtspopulismus und zum Rechtsradikalismus in Deutschland im Vergleich zu fast allen anderen Mitgliedsstaaten in Europa sogar wohltuend gering. Ob das so bleibt, hängt auch von der sozialen Stabilität dieses Landes ab. Denn steigende Arbeitslosigkeit und wachsende soziale Unsicherheit würden wohl auch bei uns zum Erstarken des rechten Randes führen.

Nichts ist für unser Land deshalb wichtiger, als gute Bedingungen für wirtschaftlichen Erfolg und soziale Sicherheit zu schaffen. Und nichts ist überflüssiger als die sozialen Verunsicherungen in der Mitte der Gesellschaft zu vergrößern. So wissen Verkäuferinnen, Alten- und Krankenpfleger, Polizisten, Facharbeiter und Handwerksgesellen sehr genau, dass sie im Alter von 69 oder 70 ihren Job nicht mehr ausüben können und dass Forderungen, den Renteneintritt bis zum 69. oder 70. Lebensjahr weiter hinauszuschieben, für sie nichts anderes sind als verkappte Rentenkürzungen. Angesichts eines durchschnittlichen Rentenzahlbetrags zwischen 800 und 1.100 Euro wäre ein bisschen mehr Demut bei den Verfassern derartiger „Reformvorschläge“ wünschenswert, die sich ja in der Regel nicht vorstellen können, wie man mit einem derart niedrigen Einkommen lebt. Neben wirtschaftlicher Kompetenz gehört auch soziale Empathie zu den Bedingungen unserer sozialen Marktwirtschaft.

Aber natürlich sind die Spielräume für Investitionen in die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes ebenso begrenzt wie unser sozialpolitischer Handlungsspielraum, wenn wir nur in nationalstaatlichen Kategorien denken und handeln. Und die Internationalisierung unserer politischen Spielregeln für die Globalisierung muss natürlich in Europa beginnen. Dafür brauchen wir nicht mehr Europa, sondern vor allem ein anderes.

Wenn die Europäische Union scheitert, dann scheitert auch der historisch einmalige Versuch einer Einbettung internationalisierter Märkte in einer supranationalen Rechtsgemeinschaft. Aus Furcht vor der Unsicherheit und aus Wut über die zunehmende soziale Ungleichheit der Globalisierung scheinen mehr und mehr amerikanische und europäische Bürger den Rückzug ins Nationale anzutreten. Damit jedoch würde der Westen den einzig berechtigten Grund für einen globalen Führungsanspruch preisgeben: Dass er bereit und in der Lage ist, seine innerstaatlichen Verfassungsordnungen – Ordnungen der Freiheit und der Gleichheit, der sozialen Grundrechte und der ökologischen Nachhaltigkeit – nicht mehr als Privileg abzuschirmen, sondern zu internationalisieren und zum Maßstab einer neuen globalen Ordnung, einer „Zweiten Globalisierung“ zu machen.

Was das konkret bedeuten kann, sehen wir bei der Antwort auf den Absturz der Finanzmärkte von 2008. Internationale Regeln zur Bekämpfung von Spekulation, Anlage- und Finanzbetrug, Regeln zum Austausch von Steuerdaten und zur Durchsetzung von Steuergesetzen sind Schritte, um den Kapitalismus wieder unter die Souveränität demokratisch legitimierten Rechts zu bringen. Wir müssen mindestens in Europa darüber hinaus und weiter voran gehen und außerdem Regeln für eine Mindestbesteuerung etablieren, Kapital und Arbeit steuerlich gleich behandeln und eine Finanztransaktionssteuer durchsetzen, die als Besteuerung der Devisenspekulation schon 1972 von dem US-Ökonom James Tobin ins Gespräch gebracht wurde.

Ich kenne alle Argumente, die dagegen ins Feld geführt werden. Und trotzdem sage ich: wenn wir die internationalen Finanzmärkte nicht an der Finanzierung der sozialen Aufgaben beteiligen, kommt der Tag, an dem sich die wachsende Wut in den betroffenen Gesellschaften Luft macht. Es wird Zeit, dass sich die klugen Vertreter liberaler Marktwirtschaften wieder mit den sozial Engagierten verbinden. Die Vertreter liberaler Ökonomien müssen sich entscheiden: Entweder sie bilden ein Bündnis mit der sozial engagierten Zivilgesellschaft und auch mit Gewerkschaften und Sozialdemokraten mit dem Ziel, den gesellschaftlichen Zusammenhalt wieder zu stärken und auch international dem entgrenzten Kapitalismus Regeln zu setzen. Oder sie beschreiten weiterhin den Weg in die wütenden Gesellschaften, in der die ihrer Träume beraubten Mittelschichten aufbegehren.

Die Verbindung von wirtschaftlichem Erfolg und sozialem Zusammenhalt hat gerade Deutschland seit 1948 zu dem gemacht, was wir heute sind: eine der stärksten und zugleich sozial und ökologisch fortschrittlichsten Volkswirtschaften der Welt. Die Idee einer sozialen Marktwirtschaft ist doch nichts anderes als ein Gegenmittel gegen die Übertreibungen. Sie soll vor zwei Irrwegen schützen: vor dem eines übergriffigen Staates oder gar einer Staats- und Planwirtschaft ebenso vor weitgehend regellosen Märkten. Ihre Konstrukteure hatten in der jungen Bundesrepublik sowohl den Nationalsozialismus vor Augen wie den Kommunismus. Allerdings wären die liberalen Ökonomen damals nicht auf die Idee gekommen, die soziale Verantwortung der Marktteilnehmer zu einer unwillkommenen Last zu erklären, die man weitgehend abschütteln will. Sondern sie war konstitutiv für eine erfolgreiche liberale Ökonomie. Auch deshalb stehen in der Verfassung der Bundesrepublik Erbschafts- und Vermögenssteuern als Gemeinwohlfinanzierung ganz oben. Wie herunter gekommen die heutige ökonomische Debatte ist, zeigt gerade der Streit über diese beiden Steuerarten, die nicht von Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht eingeführt wurden, sondern von einer CDU/CSU/FDP-geführten Bundesregierung. Damals wussten liberale Ökonomen noch, dass hohe Erbschaften leistungsloses Einkommen sind, die im Zweifel ein Wettbewerbshindernis darstellen. Heute wird der Egoismus millionenschwerer Erben (und ihrer Kinder) hinter dem Deckmäntelchen des internationalen Wettbewerbs verborgen, der angeblich solche Formen der Besteuerung nicht mehr zulasse. Man wünscht sich ein paar der mutigen Ordoliberalen zurück, die derart erhobene Steuern alle in die Bildung stecken wollten, damit es neuen unternehmerischen Nachwuchs gibt, der den Wettbewerb mit den Etablierten aufnimmt. Wir brauchen keine Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“, hinter der sich in Wahrheit ja nur die Abkehr von der sozialen Verantwortung verbirgt. Sondern wir brauchen eher mehr vom Verantwortungsbewusstsein der klassischen Idee sozialer Marktordnungen. Nicht als Kopie der 70er Jahre, sondern als Idee von der Gestaltung der Globalisierung im 21. Jahrhundert.

Nirgendwo auf der Welt gibt es ein erfolgreicheres Modell als das der sozialen Marktwirtschaft. Die Unterordnung des Individuums im Kollektivismus im staatlich gelenkten Kapitalismus Chinas produziert eine gigantische Schädigung von Umwelt und Gesundheit seiner Bevölkerung. Vor nichts hat die chinesische Führung mehr Angst, als vor Massenaufständen. Und die libertäre Marktwirtschaft der Vereinigten Staaten führt dazu, dass nicht nur die Ungleichheit wächst, sondern die Gesellschaft sich bewaffnet und soziale Konflikte mit Gewalt ausgetragen werden. Die USA haben nicht zufällig weltweit den höchsten Anteil von Gefängnisinsassen an der Bevölkerung. Die deutsche und europäische Idee der Kombination von Freiheit und sozialer Verantwortung – kurz: soziale Marktwirtschaft – ist nicht perfekt und hat auch ihre Schwächen. Aber sie ist den genannten Systemen von grenzenlosem Kollektivismus wie Individualismus bis heute überlegen. Ohne die viel zu hohe Arbeitslosigkeit und auch die Armut in Südeuropa zu übersehen, kann man immer noch selbstbewusst sagen: auch heute noch ist Europa trotz aller Probleme und Unzulänglichkeiten der beste Platz der Welt. Nirgendwo gibt es mehr Freiheit, mehr soziale Sicherheit und mehr Frieden.

Wer das bewahren will, muss allerdings die mit der Freiheit verbundene Verantwortung annehmen. Auch bei der Finanzierung des Gemeinwesens. Und bevor man das weltweit einfordert, muss man in Europa dafür ein Beispiel schaffen. Eine Billion € (!) fehlen nach Angaben der Europäischen Kommission in Europas Staatshaushalten durch Steuerhinterziehung. Allein in Deutschland 215 Milliarden, weit mehr als die Hälfte des Bundeshaushaltes. Jeder Bäckermeister zahlt höhere Steuersätze als Konzerne wie Amazon, Google oder Starbucks. Das verletzt nicht nur das Gerechtigkeitsempfinden, vor allem beobachten Europas Bürgerinnen und Bürger ja zugleich, dass ihre Schulen ebenso verkommen wie die öffentliche Infrastruktur. Es fehlt das Geld für die Polizei ebenso wie für eine ordentliche Ausstattung der Städte und Gemeinden. Wenn es uns gelingt, durch harte Bekämpfung der Steuerhinterziehung auch nur 10 oder 15 Prozent der Summen aufzubringen, die hinterzogen werden, können wir in Deutschland und Europa ein spürbares Investitionsprogramm für die modernste digitale Infrastruktur, für Forschung und Entwicklung und für intakte Kommunen auflegen. Solche Signale sind es, die Gerechtigkeit glaubwürdig machen und die Zukunftshoffnung zurückbringen.

Europa folgt seit mindestens zwei Jahrzehnten vor allem der Idee eines Binnenmarktes mit möglichst viel Wettbewerb. Kein Zweifel: Wettbewerb auf einem freien Binnenmarkt ist von ungeheurer Bedeutung. Und doch hat der große Europäer Jaques Delors Recht, wenn er sagt: Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt. Europa muss mehr schaffen als das. Es muss zeigen, dass die Verbindung von Freiheit und (sozialer) Verantwortung, von wirtschaftlichem Erfolg, Modernität und gesellschaftlichem Zusammenhalt immer wieder aufs Neue gelingt.

Menschen suchen nach Ankern und auch nach Ordnung in einer chaotischen Welt. Die allermeisten ahnen, dass sie sich individuell immer wieder neuen Veränderungen stellen müssen. Aber sie wollen auch irgendwo festen Grund unter den Füßen spüren. Das muss im Großen wie im Kleinen erfolgen: Im Großen, in dem Europa eine gemeinsame und eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik, die die Abhängigkeit von den USA verringert. Und im Kleinen, damit sich Menschen dort, wo sie wohnen und leben, sicher aufgehoben fühlen. Heimat ist deshalb kein vormoderner Begriff, sondern ein hoch moderner. Lebendige und gut geführte Städte und Gemeinden schaffen Sicherheit und Zusammenhalt. Verwahrloste Städte und Gemeinden produzieren verwahrloste Köpfe und Seelen.

Aber natürlich steht Europa nicht alleine. Deshalb ist es richtig, nach Partnern zu suchen. Ein Beispiel dafür, was für eine „Globalisierung 2.0“ zu tun ist, sehen wir auch in der Handelspolitik. Bisherige Freihandelsverträge sind mit dem Abbau von sozialen Standards verbunden. Wir brauchen jedoch einen Paradigmenwechsel in der Handelspolitik zur international vereinbarten Sicherung von Sozial- und Umweltnormen. Die aktuellen Abkommen zwischen der EU und den USA sowie Kanadas sind der Prüfstein, welche Richtung der Westen einschlägt, um beispielgebend für eine globale Handelsordnung zu werden. Mit Kanada ist ein Vertragsentwurf gelungen, der zwar nicht alle Fragen auflöst, der aber relative Fortschritte ermöglicht, indem die private Schiedsgerichtsbarkeit für Investitionen abgelöst wird durch einen Investitionsschiedsgerichtshof, die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation gestärkt werden, soziale Daseinsvorsorge in öffentlicher Regie möglich und demokratisch beschlossene Marktregulierung, solange sie für alle gleich gilt, unangetastet bleibt. Ich kann leider nicht sagen, dass die Verhandlungen mit den USA in gleicher Weise erfolgreich sind. Doch sicher ist, dass wir hinter ein einmal erreichtes fortschrittliches Paradigma der Handelspolitik nicht wieder zurückgehen können. Diese Chance auf dem Weg in eine andere Globalisierung sollten wir nicht leichtfertig vergeben. Nationaler Protektionismus hilft uns nicht voran. Im Gegenteil, er schließt uns ein und macht uns schwach.

In Deutschland und auch in anderen Ländern Europas haben wir nach dem Zweiten Weltkrieg den Kapitalismus erfolgreich durch den Sozialstaat gezähmt und ihn damit nicht nur gesellschaftsfähig gemacht, sondern auch erfolgreich. Der soziale Friede hierzulande sucht weltweit seinesgleichen. Jetzt geht es darum, das auch international zu schaffen. Das ist nicht leicht und vermutlich halten viele es heute für illusionär. Aber das galten freie Wahlen, Demokratie, Krankenversicherung, Rentenansprüche und vieles andere mehr Ende des 19. Jahrhunderts auch. Kluge Liberale und Sozialdemokraten wissen: eine bessere Welt kommt nicht von allein. Jeder Schritt in die richtige Richtung macht Sinn und macht die Welt etwas freier, demokratischer und gerechter. Niemand hindert uns im 21. Jahrhundert, diese Erfahrung des 20. Jahrhunderts erneut zu machen.

Der Namensbeitrag des SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel erschien im "Handelsblatt" am 19. August 2016.