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23.11.2018 | Interview mit Andrea Nahles

Es war schon immer das Anliegen der SPD, den Sozialstaat auf die Höhe der Zeit zu bringen.

Sie wollen Hartz IV hinter sich lassen. Warum glauben Sie eigentlich, dass Sie die SPD mit diesem Thema aus der Krise führen können?

Nahles: Wir machen das, weil wir es für wichtig und richtig halten. Es war schon immer das Anliegen der SPD, den Sozialstaat auf die Höhe der Zeit zu bringen. Es gibt erhebliche Veränderungen in der Arbeitswelt, das alte System passt an vielen Stellen nicht mehr. Darauf reagieren wir. Das ist eine Herzensangelegenheit für die SPD.

Parteilinke gehen noch weiter und fordern einen Bruch mit Hartz IV. Ihre Minister fürchten dagegen, der Vorstoß überlagere Ihre Erfolge in der Koalition. Wie wollen Sie diese Kluft schließen?

Nahles: Das habe ich von unseren Ministern noch nicht gehört. Es wäre auch falsch. Unsere Ideen für die Zukunft und die aktuelle Regierungsarbeit greifen ineinander. Wir weiten den Leistungsbereich der Arbeitslosenversicherung gerade aus und geben bis 2021 für den sozialen Arbeitsmarkt vier Milliarden Euro aus. Da schaffen wir echte reguläre Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose, übrigens zum Tarif- und nicht nur zum Mindestlohn. Das ist ein Riesenschritt genau in die Richtung, die wir wollen.

Wir gestalten die Gegenwart und denken an morgen.

Aber diese Maßnahmen gehen völlig unter, wenn Sie gleichzeitig versprechen, das System Hartz IV überwinden zu wollen.

Nahles: Nein. Wir gestalten die Gegenwart und denken an morgen. Das unterscheidet uns von den Konservativen. Jetzt beginnt die Diskussion um die Zukunft des Sozialstaats, in der nächsten Wahlperiode wollen wir unsere Vorschläge umsetzen. Die Grundsicherung ist dabei nur ein Teil einer großen Reform, die zum Beispiel auch die Einbeziehung von Beamten in die Rentenversicherung und die Überwindung der Zwei-Klassen-Medizin umfassen soll. Wir müssen die Zukunftsdebatten jetzt führen und können gleichzeitig gute Veränderungen im Parlament beschließen. Beim Sozialstaat müssen wir aber insgesamt ran. Man kennt das doch von zu Hause: Man wechselt mal einen Teppich aus oder streicht mal die Wände. Aber nach 15 Jahren merkt man: Jetzt ist eine Grundsanierung fällig.

Ihr Vorgänger Sigmar Gabriel warnt, die SPD dürfe nicht zur Hartz-IV-Partei werden, die gäbe es mit der Linkspartei schon. Einen Überbietungswettkampf mit ihr könne man nur verlieren.

Nahles: Das muss sich niemand Sorgen machen, denn wir wollen etwas ganz anderes als die Linkspartei und übrigens auch die Grünen. Im Unterschied zu denen wollen wir nicht noch mehr Leistungsempfänger, sondern weniger. Wir wollen Arbeitslosigkeit schon verhindern, bevor sie entsteht und jenen Wege daraus eröffnen, die darin gefangen sind, durch Anreize, Qualifizierung und eben den gerade beschlossenen sozialen Arbeitsmarkt. Die Grundsicherung soll immer nur das letzte Glied einer langen Kette von Hilfen sein. Wir wollen ein Recht auf Arbeit – und eben nicht ein Recht auf bezahltes Nichtstun. Das ist die exakt entgegengesetzte Logik.

Sie werben für ein Bürgergeld als neues System der Grundsicherung, bleiben in den Details aber vage. Auffallend ist, dass tragende Säulen Ihres Vorschlags die gleichen sind wie in Hartz IV: Bedarfsprüfung, Mitwirkungspflicht – und Sanktionen. Was ist denn im Kern neu am Bürgergeld?

Nahles: Zentral anders ist das Menschenbild. Hartz IV kommt aus einer anderen Zeit. Die Arbeitslosigkeit war doppelt so hoch und die Debatte um den Missbrauch des Sozialstaats allgegenwärtig. Es ist mit Perspektive auf den Missbrauch konstruiert worden – und nicht auf diejenigen, die es brauchen. Deshalb ist Hartz IV bis heute vom Bild des faulen Arbeitslosen geprägt. Ich halte dieses Bild für falsch. Das Bürgergeld geht dagegen den zugewandten Weg. Es gibt Menschen, die Unterstützung brauchen und erhalten müssen – und von denen im Gegenzug erwartet werden kann, dass sie dabei mitwirken.

Es gelten die gleichen Prinzipien, nur das Menschenbild ist freundlicher?

Nahles: Nein, der Perspektivwechsel hat sehr konkrete Auswirkungen. Zwei Beispiele: Erstens, wenn es einerseits Sanktionen gibt, könnte es andererseits künftig auch einen Bonus für die Betroffenen geben etwa für besonderen Einsatz bei der Mitwirkung. Und Sanktionen dürfen nicht wie aktuell das Existenzminimum antasten. Denkbar sind ja beispielsweise auch andere Sanktionen als Leistungskürzungen. Zweitens müssen wir die Bürokratie reduzieren und und Zuständigkeiten klarer machen. Die ganze Haltung muss sein: Hier wird mir geholfen, nicht: hier bin ich Bittsteller. Das ist übrigens auch die Haltung mit der die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern ihre Arbeit verrichten möchten. Auch die leiden unter manchen Regeln die das jetzige System hat.

Der Perspektivwechsel bedeutet auch, die Kinder aus dem System nehmen.

Was könnte sich noch ändern?

Nahles: Der Perspektivwechsel bedeutet auch, die Kinder aus dem System nehmen. Es kann etwas nicht richtig sein, wenn wir insgesamt 200 Milliarden für Kinder, Familien- und Eheleistungen ausgeben und trotzdem zwei Millionen Kinder in der Grundsicherung leben. Die werden als Hartz-IV-Kinder geprägt, und dadurch oft diffamiert. Wir brauchen stattdessen eine eigene Grundsicherung für Kinder. Weiterhin: Ein neues System würdigt weit stärker Qualifizierung und die vorhandene Qualifikation. Ich habe mit dem Arbeitslosengeld Q bereits einen Vorschlag dazu gemacht. Das würde schon den Fall in die Grundsicherung verhindern. Aber auch innerhalb der Grundsicherung müssen wir die Qualifizierungsangebote deutlich ausbauen.

Was ist mit der größten Ungerechtigkeit in Hartz IV – dass Menschen, die 30 Jahre oder mehr gearbeitet haben, genauso behandelt werden wie Menschen, die nie gearbeitet haben?

Nahles: Das ist der Urfehler von Hartz IV. Er hat dazu geführt, dass das ganze System Angst einflößt. Ich will aber, dass Menschen, die Hilfe brauchen, sich sicher fühlen – und keine Angst haben. Dieses Ziel müssen wir erreichen, und das Arbeitslosengeld Q ist ein erster Schritt dazu…

…der das Problem aber nicht grundsätzlich löst.

Nahles: Aber eine Menge davon, denn es schafft älteren Arbeitslosen neue Perspektiven und verhindert den Übergang in die Grundsicherung. Zusätzlich müssen wir verhindern, dass jemand der mit 55 arbeitslos wird und aus welchen Gründen auch immer doch auf Grundsicherung angewiesen ist, erst seine Ersparnisse und sein mühsam erarbeitetes Wohneigentum auflösen muss bevor er Hilfe bekommt. Da haben wir in den letzten Jahren schon einiges geändert, es reicht aber noch nicht.

Sie wollen das Konzept mit und in Ihrer Partei gemeinsam entwickeln. Sind Sie neidisch auf Robert Habeck, der einfach ein Konzept vorlegen kann, ohne dies in der Partei lange abstimmen zu müssen?

Nahles: Vielleicht hätte er das mal mit drei Leuten in seiner Partei diskutieren sollen. Vier Millionen Empfänger mehr, Mehrkosten von 30 Milliarden Euro im Jahr – übrigens finanziert von Leuten, die hart arbeiten und selbst oft nicht besonders viel verdienen. Ich diskutiere das gerne mal mit ihm.

Wir brauchen mehr Menschen in Arbeit – und nicht mehr Menschen in der Grundsicherung.

Ihr Konzept sieht Steuergutschriften für Erwerbstätige vor – das ist im Zweifel auch sehr teuer.

Nahles: Der grundlegende Unterschied ist doch: Die einen behaupten, das Ende der Arbeit naht durch die Digitalisierung, und deshalb müssen wir den Leuten Geld fürs Nichtstun geben. Das sind die Grünen, die Linken, Teile der FDP, komischerweise auch einige Spitzenmanager. Wir Sozialdemokraten sagen hingegen: Das Ende der Arbeit naht eben nicht, im Gegenteil. Wir brauchen mehr Menschen in Arbeit – und nicht mehr Menschen in der Grundsicherung. Die Arbeit ändert sich allerdings. Deshalb müssen wir Menschen unterstützen, die Unterstützung brauchen. Und sie nicht als Arbeitsverweigerer abstempeln.

Sie haben harte Monate hinter sich. Der Fall Maaßen, die Wahlniederlagen in Bayern und Hessen: Wann ist der Tiefpunkt für die SPD erreicht?

Nahles: Die Frage überrascht mich. Der liegt schon lange hinter uns. Wir haben bei der Bundestagswahl schlecht abgeschnitten und hatten dann eine schwierige Diskussion darüber, ob wir in die Regierung gehen. Jetzt diskutieren wir mal wieder inhaltlich. Dass die SPD ein Ort lebendiger, politischer Kontroverse ist, hat man beim Debattencamp gesehen.

Die Lage in der GroKo ist doch aber unverändert prekär, demnächst wählen CDU und CSU neue Vorsitzende: Wie lange geben Sie der Koalition noch?

Nahles: CDU und CSU sind in einem Häutungsprozess, den wir bereits im Frühjahr hinter uns gebracht haben. Das bedeutet für die Koalition erst mal nichts. Es kommt aber darauf an, ob wir in der neuen personellen Konstellation besser zusammenarbeiten als in den vergangenen neun Monaten. Ich hoffe das. Es wäre mehr als nötig.

Haben Sie einen Favoriten für den CDU-Vorsitz?

Nahles: Nein. Entscheidend ist die Frage, ob der Richtungsstreit in der Union nach der Wahl beendet ist. Will der oder die Neue den Koalitionsvertrag mit uns umsetzen? Wir schauen uns das an. Die SPD ist im Moment nicht die Partei, bei der die Hütte qualmt.

Das Interview ist am 22.11.2018 auf SpiegelOnline erschienen.