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Aktuelles

Foto: Martin Schulz
dpa
01.06.2017 | Beitrag von Martin Schulz

Zeit für ein starkes Europa

Martin Schulz

Wir brauchen einen mutigen Schritt nach vorne. Das gilt für Deutschland - das gilt aber vielleicht sogar noch mehr für Europa. Denn kaum ein Land profitiert so stark von unserer grenzüberschreitenden Kooperation wie Deutschland:

· sei es durch universitäre Austauschprogramme, die unsere Jugend zusammenbringt;

· sei es durch die Stabilität unserer gemeinsamen Währung;

· sei durch den Binnenmarkt, der unseren exportwirtschaftlichen Erfolg erst ermöglicht;

· oder sei es ganz einfach durch die Stabilität, in der ehemals verfeindete Völker seit nun mehr als sieben Jahrzehnten friedlich Seite an Seite leben.

Welche Bedeutung dieses Europa für Deutschland hat, hat wohl niemand treffender formuliert als Willy Brandt 1971 in seiner Friedensnobelpreisrede in Oslo: „Durch Europa kehrt Deutschland heim zu sich selbst und den aufbauenden Kräften seiner Geschichte.“

Starkes Europa entscheidend für Deutschland

Ein starkes Europa ist entscheidend für unseren Frieden, unseren Wohlstand und unsere Sicherheit. Gerade in diesen Tagen, in denen die Welt unsicherer wird und sich die Fronten verhärten. In diesen Tagen, in denen ein amerikanischer Präsident nach Brüssel reist, nur um seine Verbündeten und Partner zu brüskieren, ohne jegliche Würde und ohne jeglichen Respekt zur Seite zu schubsen und wie Unterwürfige zu behandeln. In diesen Tagen müssen wir umso enger zusammen stehen und die europäische Einigung nicht nur verteidigen, sondern fundamental reformieren.

Wir brauchen nicht mehr Europa, sondern ein besseres Europa, ein verständlicheres Europa, ein wirtschaftlich starkes und soziales Europa! Für ein solches Europa habe ich fast 23 Jahre im Europaparlament gekämpft und ich werde es aus Berlin mit mindestens derselben Energie tun! Man entdeckt seine Begeisterung für Europa nicht bei taktischen Sonntagsreden im Bierzelt. Für ein vereintes Europa zu kämpfen ist eine Herzensangelegenheit. Es ist eine schwierige Aufgabe, für die man all seinen Mut und all seine Kraft braucht.

Wer glaubt denn ernsthaft, dass wir mit der altbekannten Taktik des „weiter-so“ und Durchwurschtelns in den nächsten Monaten und Jahren auch nur einen Schritt weiter kommen bei Fragen wie der Steuerung der Migration nach Europa, bei der Lösung der griechischen Schuldenfrage oder bei der Modernisierung unserer europäischen Wirtschaft?

Wir brauchen ein besseres Europa!

Wir müssen dringend darüber reden, wie wir unsere Gemeinschaft besser machen können. Ich bin überzeugt: Wir brauchen eine fundamentale Reform der Europäischen Union, die ihre Substanz stärkt und dadurch ihre Akzeptanz erhöht!

In diesem Jahr bietet sich eine einmalige Chance: Mit der Wahl von Emmanuel Macron ist nun ein reformorientierter und ambitionierter französischer Präsident gewählt worden, der in Berlin ein Gegenüber braucht. Mit ähnlicher Energie und dem festen Willen, dieses Europa voranzubringen. Jemand, der gute Kontakte in die Nachbarländer hat, der mit den europäischen Institutionen ambitionierte Projekte voranbringt, von denen Deutschland genauso wie Europa profitiert.

Die peinlichen und würdelosen Auftritte des amerikanischen Präsidenten bei der NATO und G-7 haben gezeigt, dass wir uns selbständiger machen müssen. Donald Trump zerstört die Werte des Westens, die es zu verteidigen gilt. Hier ist nun die eigentliche Aufgabe Europas!

Europa: Meine fünf Kernthemen

Deshalb möchte ich heute anhand der folgenden fünf Punkte umreißen, worum es mir angesichts der bitteren Auftritte von Trump jetzt geht und wo ich dringenden Handlungsbedarf der EU sehe:

Punkt eins: Europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik

· Wir brauchen endlich eine europäische Politik gegen Steuerflucht und Steuerhinterziehung. Europäische Staaten verlieren Jahr um Jahr Milliardenbeträge, die dann für Sozialleistungen, für Investitionen und für beispielsweise die Renten fehlen, nur weil einige Egoisten denken sie stünden über dem Gesetz!

· Wir brauchen einen eigenen Haushalt für die Eurozone. Wenn konkrete Aufgaben für eine gemeinsame Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik von allen gemeinsam vereinbart würden, könnte dieses Budget helfen die notwendigen Wachstumsimpulse in der Eurozone zu schaffen.

Punkt zwei: Wertegebundener Außenhandel

· Wenn wir die Globalisierung gerecht gestalten möchten, dann geht das nur über Kooperation, auch über die Grenzen der Europäischen Union hinweg. Deshalb ist es richtig, dass die Europäische Union Handelsverträge mit anderen Wirtschaftsräumen der Welt abschließt. Es darf nicht allein um Freihandel gehen, im Mittelpunkt muss der faire Handel stehen. Ziel muss es dabei sein, dass die hohen Standards, die wir in Europa in der Klimapolitik wie beim Verbraucherschutz, bei den Arbeitnehmerrechten wie bei der Rechtsstaatlichkeit haben, auch bei unseren Vertragspartner zu Geltung kommen. Das CETA-Abkommen, für das ich mich persönlich als Präsident des Europäischen Parlaments eingesetzt habe, dient hier als leitendes Beispiel.

Punkt drei: Gemeinsame Migrations– und Asylpolitik

· Solidarität ist keine Einbahnstraße und keine Rosinenpickerei. Es geht um eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf unserem Kontinent. Denn Solidarität und faire Lastenteilung ist die Basis der europäischen Zusammenarbeit. Deutschland ist solidarisch, wenn es um Hilfe für andere Länder geht – auch finanziell. Deutschland ist solidarisch, wenn sich andere Länder bedroht fühlen und trägt dann auch Sanktionen mit. Aber wenn Solidarität bei einigen Mitgliedsländern so interpretiert wird: bei der Finanzierung der Agrarfonds oder der Mittel für die Strukturförderung „Ja, bitte“, aber bei der Solidarität mit Menschen „Nein, danke“, dann muss eine künftige Bundesregierung die Frage der Solidarität bei der Flüchtlingspolitik mit der nächsten EU-Finanzplanung verbinden.

Punkt vier: Klimaschutzpolitik

· Europa hat eine stolze Tradition beim Klimaschutz. Im Europaparlament wurde der Weg für das Inkrafttreten des Pariser Abkommens freigemacht. 195 Länder haben sich darin erstmals auf ein allgemeines, rechtsverbindliches weltweites Klimaschutzübereinkommen einigen können. Das Pariser Abkommen ist einer der größten Erfolge der internationalen Politik des 21. Jahrhunderts! Auch ohne die USA werden wir dieses Abkommen umsetzen. Der Kampf für unseren Planeten kann nicht für vier Jahre ruhen. Es geht um viel: um Generationengerechtigkeit und um Zukunftspolitik. Die Zukunft liegt in klimaneutralen innovativen Technologien. Diese Produkte und Verfahren werden unsere zukünftigen Exportschlager sein. Klimapolitik ist deshalb kein Wachstumshemmnis, wie uns das der amerikanische Präsident zu verkaufen versucht, sondern unser Wachstumsmotor der Zukunft.

· Übrigens: Sollten die USA aus dem Klimaabkommen aussteigen, würde das auch eine unzulässige Wettbewerbsverzerrung zum Nachteil der europäischen Unternehmen bedeuten.

Punkt fünf: gemeinsame europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik

· Die letzten internationalen Auftritte des amerikanischen Präsidenten haben uns gezeigt: die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sind schwieriger geworden. Ich hätte niemals gedacht, dass ein amerikanischer Präsident bei einem Staatsbesuch vom Verkauf von „wunderschönem Kriegsgerät“ sprechen würde. Solch ein Mann fordert nun, dass wir in Deutschland 20 bis 30 Milliarden Euro mehr für Rüstung ausgeben sollen – pro Jahr! „Mehr Waffen für mehr Sicherheit.“ Diese Logik lehnt meine Partei ab!

· Dass unsere Sicherheit verteidigt werden muss, ist angesichts der Konflikte in der Welt erschreckend deutlich. Deshalb werden auch wir Sozialdemokraten den Verteidigungshaushalt erhöhen und endlich wieder dafür sorgen, dass unsere Bundeswehr vernünftig ausgestattet ist und die Hubschrauber abheben. Aber wir werden dies mit Maß und Verstand tun. Unser eigentliches europäisches Problem besteht auch nicht in mangelnden Ausgaben, sondern in unserer Ineffizienz. Europa gibt zusammen etwa die Hälfte des Militärhaushalts der USA aus. Wir erreichen aber nur 15% der amerikanischen Effizienz. Besser abgestimmte und vereinte europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik: darum geht es. Da liegt die eigentliche Aufgabe europäischer Politik.

· Und wenn wir schon von dringend notwendiger Abstimmung reden: Warum stimmen sich unsere Geheim– und Sicherheitsdienste immer noch nicht besser bei der Terrorbekämpfung ab?

Für eine andere Politik in Deutschland

Das sind fünf Punkte bei denen wir in Europa entscheidende Fortschritte machen müssen. Für manche brauchen wir vielleicht eine Vertragsreform, für andere nicht. Was wir aber mit Sicherheit brauchen, ist ein anderes Auftreten der Bundesrepublik. Als der französische Präsident seine ersten Vorschläge zur Reform der EU vorgebracht hat, da schallte ihm aus dem Finanzministerium entgegen: Nein! Nein! Nein! Das ist die Politik, die wir seit Jahren sehen. Eine Verwaltung des Status quo, ein Nein zu Reformen und ein Handeln nur dann, wenn der öffentliche Druck schier unerträglich wird.

Ich möchte hin zu einer anderen Politik. Für Deutschland und für Europa. Eine Politik die nicht nur reagiert, sondern antizipiert und gestaltet. Eine Politik mit einer klaren Vision und einem klaren Ziel: gerechte und zukunftsfähige Gesellschaften, die über die Grenzen kooperieren und sich gegenseitig stärken!

Dorthin zu kommen wird nicht einfach sein. Machen wir uns nichts vor. Nicht selten wurde in den letzten Jahren die Frage gestellt: wird die Europäische Union das nächste Jahrzehnt überhaupt überleben? Vieles liegt im Argen und vieles wurde liegen gelassen: politisch, ökonomisch und institutionell.

Europa als Gegenmodell zu Trump & Co.

Aber spüren wir nicht alle, dass wir an einen Punkt gelangt sind, an dem Wandel endlich möglich ist? An dem wir unser freies, unser tolerantes unser friedliches und respektvolles Europa wieder richtig stark machen können! Auch als Gegenmodell zu den Trumps, den Le Pens, den Erdogans und den Putins.

Viele Augen blicken nach Deutschland: auch, weil wir dank unserer starken Wirtschaft als Erfolgsmodell gelten. Weil wir schon oft an kritischen Momenten gezeigt haben wie Reformen angepackt werden können.

Deshalb: Lassen Sie uns diese Chance gemeinsam nutzen. Als Allianz derer, die nach vorne gehen wollen. Lassen Sie uns die Zukunft gemeinsam anpacken.