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Foto: Norbert Walter-Borjans
dpa
06.04.2020 | Norbert Walter-Borjans im Interview

„Wir alle profitieren von Europa“

SPD-Chef Norbert Walter-Borjans spricht sich für schnelle Hilfen innerhalb der Europäischen Union aus. Weil sich bei den gemeinsamen Anleihen, den sogenannten Corona-Bonds, in Europa keine schnelle Lösung andeute, schlägt er ein „pragmatisches Vorgehen“ im Rahmen des europäischen Stabilitätsmechanismus vor. „Das bringt schnell die dringend benötigte Liquidität“, sagte er in einem am Sonntag veröffentlichten Interview mit mehreren italienischen und spanischen Zeitungen. Das Interview im Wortlaut:

Die hitzige Diskussion über die Eurobonds ist durch die Coronavirus-Krise befeuert worden und nun ist von Corona-Bonds die Rede. Inhaltlich ändert sich wenig. Die Südländer sind dafür, die nordeuropäischen Länder dagegen. Italien und andere EU-Länder lehnen den alten ESM ab, weil dadurch Kredite an strengen, unwürdigen Auflagen verbunden wären. Italiens Ministerpräsident Conte hat mehrmals unterstrichen, dass Italien keine Almosen will und selber für seine Schulden geradestehen und diese nicht auf andere Staaten abladen würde. Das reicht offenbar nicht: Österreich, die Niederlande und Deutschland lehnen es strikt ab. Soll der Streit ad absurdum geführt werden bis Europa gegen die Wand läuft?

Norbert Walter-Borjans: Ich bin für Eurobonds, aber der Ernst der Lage lässt uns für Prinzipienreiterei keine Zeit. Deshalb sollten wir jetzt zweispurig fahren. Wenn die Widerstände gegen Gemeinschaftsanleihen nicht schnell zu überwinden sind, müssen wir das vorhandene Instrumentarium nutzen: , Deswegen bin ich für ein pragmatisches Vorgehen: zuerst den ESM aktivieren und ergänzen – ohne die demütigende Maßregelung der Vergangenheit. Das bringt schnell die dringend benötigte Liquidität. Dann haben wir die Zeit, dafür zu kämpfen, dass wir mit Corona-Bonds auch das nötige Volumen, die nötige lange Laufzeit und die gebotene Fairness hinbekommen.
Dazu verhandelt der sozialdemokratische Bundesfinanzminister Olaf Scholz derzeit mit allen wichtigen Entscheidungsträgern. Es sieht so aus, als ließe sich Zustimmung dafür erreichen, dass der ESM ohne die verpönten Auflagen genutzt werden kann. Dann sollten wir das im gemeinsamen Interesse machen – aber das Ziel einer Finanzierung über Corona-Bonds nicht aufgeben.

Sie sind einer der wenigen deutschen Politiker, die sich offen für die Corona-Bonds ausgesprochen hat. Das Land und die Bundesregierung selbst ist gespalten, die Union ist dagegen, die SPD dafür, die Wirtschaftsexperten hauptsächlich dagegen und die Mehrheit der Deutschen laut Umfragen auch….

…auch viele deutsche Wirtschaftsexperten sind mittlerweile der Meinung, dass Eurobonds - jedenfalls einmalig und auf Corona begrenzt - die richtige Lösung wären. Dass die deutsche Öffentlichkeit sich schwer tut, hat damit zu tun, dass gemeinsame Anleihen von Konservativen und Liberalen seit Jahren mit dem Kampfbegriff von der "Vergemeinschaftung" der Schulden diskreditiert wurden. Aber das Gespür der Menschen wächst, wie sehr Deutschland von Europa profitiert und dass damit auch eine besondere Verpflichtung Deutschlands für Europa verbunden ist.

Hunderte von Intellektuellen, u.a. Jürgen Habermas, haben in drei verschiedenen Appellen an Frau Merkel geschrieben, damit sie sich auch dafür ausspricht. Wird sie nachgeben?

Die Appelle sind enorm wichtig. Sie zeigen, dass es nicht nur die Kräfte gibt, die auf nationalen Egoismus setzen, sondern auch viele, die den Wert von Solidarität für den Zusammenhalt Europas und die Sicherung der gemeinsamen Zukunft erkennen. Darauf bin ich richtiggehend stolz. Das gehört auch zu Deutschland. Und das kann die Politik nicht ignorieren.

Auch zwei Vorgänger von Ihnen haben sich in der Debatte eingeschaltet. Martin Schulz hat sich wiederholt für die Eurobonds und nun auch für die Corona-Bonds ausgesprochen. Sigmar Gabriel hat die EU und Deutschland für die mangelnde Hilfsbereitschaft scharf kritisiert. Deutschland hätte anstatt 156 Milliarden Euro Neuschulden als Hilfspaket, 166 Milliarden beschließen müssen und davon 10 Milliarden als erste Hilfe an Italiener und Spanier geben sollen. Die hätten sich, sagte er, 100 Jahre bedankt während sie sich nun erinnern werden, dass in der Not die Chinesen geholfen haben. Glauben Sie, die Antwort Europas und Deutschlands bis jetzt war ausreichend im Sinne einer europäischen Solidarität?

Bis sich der sozialdemokratische Finanzminister Olaf Scholz auf den Weg gemacht hat, um wenigstens einen schnell wirkenden Kompromiss zu erzielen, waren die Antworten europaweit beschämend. Einige zeigen bis heute, dass sie den Ernst der Lage noch nicht begriffen haben. Europäische Nationalstaaterei würde jeden Mitgliedstaat über kurz oder lang in die Bedeutungslosigkeit treiben - auch Deutschland. Dass China Italien in dieser Uneinigkeit Hilfe anbietet, geschieht doch nicht aus Selbstlosigkeit. Dahinter stecken knallharte Interessen - für China, nicht für Europa und auch nicht für Italien. Allerdings wären zehn Milliarden mehr Kredit als erste Hilfe für Spanien und Italien auch keine Lösung. Nötig wäre eine große gemeinschaftliche Anleihe, ohne Gönnerattitüde und ohne Maßregelung. Eher 1.000 als 10 Milliarden und eher für 20 Jahre als für zwei.

Eine hässliche Folge der Diskussion über Corona-Bonds ist die Infragestellung von Europa, und das nicht nur von den nationalistisch orientierten Parteien sondern auch von den Bürgern, und das Entstehen von Spannungen zwischen Deutschland und Italien. Unter dem Strich, so könnte man das Empfinden zusammenfassen, sind die Länder in der Not auf sich alleine gelassen, wozu nutzt dann die EU?

Wir leben ohne Zweifel in einer Phase der Entsolidarisierung. Populisten, die den Bürgern sagen, dass wir allein besser zurecht kämen, haben nicht nur in den USA und Großbritannien Zulauf, sondern auch bei uns. Die Einstellung der Deutschen gegenüber Europa und auch gegenüber Italien ist dabei aber ganz überwiegend positiv. Aber wenn selbst manche Demokraten aus Angst vor Hetzern deren Legenden nacherzählen, verlieren die Menschen ihr Vertrauen in den Wert der Gemeinschaft.

Sie haben gesagt, dass wir in Europa ein Problem der gegenseitigen Solidarität haben. Glauben Sie, dass diese Krise Europa auseinanderbrechen kann?

Ganz ehrlich: diese Sorge treibt mich um. Leider ist die gegenwärtige Krise ja nur ein weiterer Punkt, an dem sich zeigt, dass viele nicht europäisch, sondern nationalstaatlich denken. Das war in der Finanzkrise schon so und das war und ist im Umgang mit der Zuwanderung von Flüchtlingen nicht anders. Viele haben offenbar vergessen, welches Leid nationaler Egoismus über Europa gebracht hat. Und vielen ist nicht klar, wie unbedeutend die Staaten Europas für sich genommen schon jetzt sind. Nur ein Beispiel: Die Wirtschaftsleistung Italiens, Spaniens und Deutschlands war 2000 zusammen genommen noch dreimal so groß wie die Chinas. Zwanzig Jahre später ist die chinesische Wirtschaftskraft doppelt so groß wie die der drei Staaten. Wie verrückt sind wir zu glauben, dass wir auf uns allein gestellt eine Chance hätten?

In Italien und Spanien hat die deutsche Blockade an der Grenze der Schutzmasken von Anfang März eine große Empörung verursacht. Auch weil gleichzeitig Hilfen und Ärzte aus China und Russland angekommen sind. Glauben Sie nicht, das so etwas ein Geschenk für die Anti-Europäisten und die Populisten ist?

Eindeutig ja. Das darf sich nicht wiederholen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass deutsche Krankenhäuser ohne Zögern schwer erkrankte Patienten aus Frankreich und Italien aufgenommen haben. Es war gut, dass der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seinem italienischen Kollegen Sergio Mattarella die Solidarität Deutschlands zugesichert und Hilfslieferungen angekündigt hat. Das zeigt, dass es auch viel gelebte Nachbarschaft gibt. Wir sollten die Fehler nicht beschönigen, aber auch die Solidarität nicht verschweigen. Die muss selbstverständlich sein.

Während die Epidemie um sich wütet, profitiert Viktor Orban von diesem Notstand, schließt das Parlament und hebt grundsätzliche demokratische Rechte auf. Sollte man nicht Ungarn aus der EU ausschliessen?

Ein Ausschluss würde die vielen anständigen Ungarn ihrem autokratischen Regierungschef und seinen Gefolgsleuten aussetzen. Wir müssen die demokratischen Kräfte in Ungarn stärken und sie nicht allein lassen. Aber es muss auch Konsequenzen geben, wenn ein europäischer Staat die Werte der Gemeinschaft mit Füßen tritt. Nur Zugucken ist keine Lösung. Rolf Mützenich, der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, hat sich dafür ausgesprochen, die EU-Mittel beim Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze zu kürzen. Das unterstütze ich.

Deutschland ist später vom Coronavirus erreicht worden, hat Vorsorge getroffen und die Auswirkungen sind viel weniger dramatisch ausgefallen als in Italien. Wie bewerten Sie die Vorkehrungen, das Konzept, das in Italien gefolgt wurde, also strickte Isolierung und sozialer Abstand? Kann man überhaupt Vergleiche machen oder gar von ein Modell Italien sprechen?

Deutschland ist später getroffen worden als Italien. Wir können gar noch nicht sagen, ob die Auswirkungen am Ende geringer sind. Bei uns erweist es sich jetzt als Glücksfall, dass wir den Marktradikalen widerstanden haben, die das Gesundheitswesen am liebsten drastisch ausgedünnt und nur an Renditeerwartungen ausgerichtet hätten. Deshalb hat Deutschland jetzt eine gute intensivmedizinische Ausstattung. Dazu kommt, dass die Bilder aus Italien viele Menschen zur Vorsicht mahnen. Ob das reicht, wissen wir nicht. Was wir lernen ist, dass wir auch hier europaweit zusammenarbeiten müssen und einen europäischen Standard für das Gesundheitswesen brauchen. Dafür müssen alle Staaten der EU auch handlungsfähig sein.

Die Finanzkrise bedeutet in vielen Ländern größere Ungleichheit und eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Was sollte diesmal getan werden, um eine Verschlimmerung der sozialen Ungleichheiten zu vermeiden?

Es ist leider wahr, dass der Graben zwischen oben und unten nach jeder Krise größer geworden ist. Mittlerweile sagen selbst konservative Kräfte, dass wachsende Ungleichheit von Übel für die Gesellschaften ist. Es ist richtig, dass wir jetzt schnell und unbürokratisch viel Geld in die Hand nehmen, um den wirtschaftlichen Kollaps zu verhindern. Nach der Krise müssen wir aber über die Verteilung der entstandenen Lasten reden. Dabei müssen zwei Dinge klar sein: Corona darf nicht zum Verzicht auf dringend nötige Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Klimaschutz und Gesundheitsversorgung führen, und es darf auch nicht die Alternative geben: Investitionen oder soziale Sicherung. Wenn wir in Zukunft Krisen verhindern wollen und Corona nicht zu einer Hypothek für eine ganze Generation werden lassen wollen, brauchen wir beides. Dann stellt sich aber die Frage danach, wer das bezahlt. Dabei muss der Leitsatz, dass starke Schultern mehr beitragen müssen als schwache, stärker zur Geltung kommen als in der Vergangenheit.

Was hat Deutschland aus der Finanzkrise von 2008 und der sehr großen Opfer gelernt, die die Länder des Südens aufgrund der Konditionalitäten gebracht haben?

Ich kann nur sagen, was wir Sozialdemokraten gelernt haben: dass Europa nicht aus Gönnern und Bittstellern bestehen darf, sondern aus gleichberechtigten Partnern. Wir alle profitieren von Europa. Wir haben unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen, aber wir sind aufeinander angewiesen. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland weiß das. Sie weiß, dass Kaputtsparen keine Lösung ist. Weder bei uns noch anderswo. Aber diese Mehrheit will auch gemeinsame Regeln für die Staatsfinanzierung und für faire Steuern, auf deren Einhaltung wir überall achten müssen.

Welche wären jetzt die ersten drei Schritte, die Europa und Deutschland machen müssten?

Wir müssen uns als Erstes wieder bewusst machen, dass Europa nur gemeinsam ein Chance hat. Zweitens: Es ist toll, dass Europa so unterschiedliche Sprachen, Bräuche und Kulturen hat, aber dieses Europa braucht mehr Gemeinsamkeit in der politischen Vertretung gegenüber dem Rest der Welt. Wir brauchen eine gemeinsame Währung, aber keine Grenzen. Das alles geht nur mit einem aufgewerteten Europäischen Parlament, dazu einer europäischen Regierung, in der nicht wie bisher nationaler Egoismus regiert und nur nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner gesucht wird. Dafür muss es drittens eine europäische Finanzverfassung geben, die anhand klarer Regeln für gleichwertige Lebensverhältnisse in der ganzen Europäischen Union sorgt.

Gehen Sie jetzt davon aus, dass die Groko bis Ende der Legislatur hält? In den Medien war auch zu lesen, dass Bundeskanzlerin Merkel für ein fünftes Mandat antreten könnte?

Die persönlichen Zukunftspläne der Kanzlerin kenne ich nicht. Wir haben im Moment andere Probleme. In einer so schwierigen Zeit kommt es aber auf die Fähigkeit der demokratischen Parteien an, Probleme im engen Schulterschluss zu lösen und das Vertrauen der Menschen in die Demokratie zu rechtfertigen, ohne das eigene Profil zu verwischen. Das tun wir Sozialdemokraten, indem wir darauf achten, dass Arbeitnehmer und die, die für Beschäftigung sorgen, nicht aus dem Blick fallen - ebenso wenig wie alle, die jetzt ohne finanziellen Puffer an den Rand ihrer Existenz geraten. Ich bleibe aber dabei, dass wir für eine gerechte Politik auf Dauer andere Mehrheiten brauchen - auch mit Blick auf ein faires Miteinander in Europa.