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Aktuelles

Foto: Lars Klingbeil
Tobias Koch
30.10.2018

Eine neue SPD wird gebraucht

Lars Klingbeil

Warum eine polarisierte Gesellschaft eine sozialdemokratische Volkspartei braucht und warum die SPD sich dafür deutlich verändern muss. Ein Namensbeitrag von SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil.

Es ist die Stunde der Untergangspropheten. Angetrieben von Umfragen und einzelnen Landtagswahlergebnissen, prognostizieren Beobachter zum gefühlt 100. Mal das Ende der SPD, das Ende der Volksparteien insgesamt und nebenbei noch die fast sichere erste grüne Kanzlerschaft.
Es sind schillernde Überschriften, die dort produziert werden. Ob all das so eintritt oder nicht? Wer weiß das heute? Politik ist schnelllebiger geworden.

Trotzdem hat die Debatte einen wahren Kern. Wir erleben eine enorme Polarisierung der Gesellschaft und damit einhergehend auch des politischen Diskurses. Diese Polarisierung hat mehrere Ursachen und ist keine klassische Rechts-Links-Polarisierung. Sie ist komplexer.

Ich glaube, dass die Ursachen der Polarisierung in den Entwicklungen liegen, die unseren Alltag mit immer größerer Geschwindigkeit verändert haben. Europäisierung, Globalisierung. Immer mehr unterschiedliche Familienmodelle. Die tief greifenden Sozial- und Wirtschaftsreformen der 2000er. Der Klimawandel. Die Digitalisierung. Die weltweiten Migrationsbewegungen. Unsere Welt und unser Alltag sind in Bewegung.

Diese gewaltigen Umbrüche fanden über einen vergleichsweise kurzen Zeitraum statt, nicht über Generationen hinweg, sondern innerhalb von 20 Jahren. Viele Menschen haben 1989 darüber hinaus noch einen kompletten Systemwechsel erlebt. Die Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland sind damit sogar seit 30 Jahren einem permanenten Veränderungs- und Anpassungsdruck ausgesetzt.

Zwischen Angst und Mut

Es gibt viele Menschen, denen die Anpassung daran sehr viel abverlangt hat. Viele von ihnen haben von ihren Anstrengungen und Mühen noch nicht einmal persönlich profitiert. Sie sind erschöpft und fürchten den Abstieg. Das ist der eine Pol unserer Gesellschaft.

Der andere Pol besteht aus denjenigen, die leichter mit Veränderungen umgehen konnten oder von ihnen sogar profitiert haben. Sie nehmen die gewaltigen Anpassungsleistungen gar nicht als solche wahr. Sie blicken vor allem auf die Chancen der vor uns liegenden Entwicklung oder wollen noch größere Veränderungen. Zum Beispiel weitreichendere proeuropäische Reformen, eine stärkere Digitalisierung oder radikalere Maßnahmen gegen den Klimawandel. Auch ich persönlich zähle eher zu diesem Pol.

Viele in meiner Generation können im Großen und Ganzen sagen, dass es in den letzten 20 Jahren meistens besser wurde. Immer mehr Freiheit und Frieden, immer mehr Wohlstand und Chancen. Ich bin 1978 geboren. Ich war der Erste aus meiner Familie, der Abitur gemacht hat, der studieren konnte. Mit 25 Jahren hatte ich schon mehr von der Welt gesehen, als es sich meine Eltern jemals hätten träumen lassen. Ich habe Freunde in Europa und der ganzen Welt. Millionen anderen aus meiner Generation geht es genauso wie mir. Ich fühle mich als Europäer, der in der Lüneburger Heide verwurzelt ist und dort seine Heimat hat. Mir macht Veränderung keine Angst. Im Gegenteil: Auch mir geht heute vieles noch zu langsam.

Politik der kleinen Schritte ist derzeit out

Der erste Pol fühlt sich vom Angebot der Rechtspopulisten angesprochen. Ein Zurück in die verklärt schöne, ruhigere und überschaubarere Vergangenheit der 70er- oder 80er-Jahre. Gleichzeitig, denn nur dann funktioniert die Geschichte, leugnen AfD, Donald Trump und ihre Kumpels die gesellschaftlichen Herausforderungen und wirtschaftlichen Umwälzungen. Oder sie geben die einfachsten Antworten: "Den Klimawandel gibt es nicht." – "Menschen auf der Flucht sind lediglich Schmarotzer und Kriminelle." Machte man die Grenzen dicht, sei das Problem erledigt.


Auf der anderen Seite bieten momentan vor allem die Grünen klare, häufig aber ebenfalls recht simple Wege in eine schönere Zukunft an. Sie haben zumindest beim Klimawandel eine Vision über den Tag hinaus.

Nur diese beiden Parteien profitieren derzeit von der zunehmenden Polarisierung.

Die FDP hat vor der Bundestagswahl mit ihrer Digital- und Zukunftsausrichtung durchaus erfolgreich versucht, sich als Partei der Verändungsfreudigen zu positionieren, bis Christian Lindner in den Jamaika-Verhandlungen wieder der Mut verließ. Die Linke scheint unentschieden: Sahra Wagenknecht will zurück in die Vergangenheit, andere Teile streben nach vorne. Deswegen profitiert auch die Linke von der Polarisierung nicht.

Und die SPD?

Die SPD hat gemeinsam mit den anderen Volksparteien CDU und CSU in der Geschichte der Bundesrepublik für eine Balance gesorgt. Hier die wirtschaftsfreundliche Union, die gesellschaftspolitisch eher am Bestehenden festhalten will. Dort die SPD, die den Fortschritt organisiert und gleichzeitig für soziale Sicherheit sorgt. Durch die Wechsel der Kanzlerschaften und den Föderalismus erlebten wir schrittweisen, aber relativ kontinuierlichen Fortschritt durch Kompromisse. Veränderungen im Konsens. So wie in der großen Koalition aktuell auch.

Nur spricht diese Politik der kleinen Schritte die beiden beschriebenen Pole momentan überhaupt nicht an. Zumal die vielen Streitereien der vergangenen Monate, die ihren Ursprung meist in der Union hatten, für die meisten nicht nachvollziehbar waren und dem Image der Regierung geschadet haben.

Wer hält die auseinanderstrebenden Pole zusammen?

Was bedeutet diese gesellschaftliche Veränderung nun für die Sozialdemokratie? Es gibt in dieser Ausgangslage eine Notwendigkeit, die Daseinsberechtigung der SPD neu zu begründen. Sie muss sich radikal verändern. Es wäre aber völlig falsch, als Reaktion auf die beschriebene Polarisierung die Ausrichtung als Volkspartei aufzugeben. Denn Volksparteien definieren sich durch den Anspruch, Politik für die Mehrheit der Menschen zu machen, nicht durch Umfrage- oder Wahlergebnisse.

Ich bin überzeugt: Es braucht eine politische Kraft, die beide Pole unserer Gesellschaft wieder näher zusammenführt. Ich glaube, die SPD kann das, weil sie in ihren besten Momenten immer den Fortschrittsdrang einer Gesellschaft so organisiert hat, dass die große Mehrheit dabei mitgenommen wurde und profitiert hat.

Dafür braucht man nicht bis zu Willy Brandt zurückgehen. Das gelingt auch heute noch. Es ist der Grund, warum die SPD trotz der größten Umfrageklatschen immer noch überragende Ergebnisse bei Landtags- und Bürgermeisterwahlen erzielt hat: Malu Dreyer, Stephan Weil und zuletzt – genau am Tag der desaströsen Bayern-Wahl – Mike Schubert als neuer Oberbürgermeister in Potsdam.


Dort, wo glaubwürdige, vor Ort verankerte Persönlichkeiten mit einem nachvollziehbaren Programm Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Wünschen zusammenführen und dabei behutsam, aber entschlossen in die Zukunft streben, haben sie eine Chance zu gewinnen. Das sollte Vorbild für die zukünftige Ausrichtung der SPD sein.

Vision und Haltung als Ausgangspunkt

Dazu gehört allerdings, dass die SPD klarmacht, wo sie hin will. Dazu gehört auch die Ehrlichkeit, es nicht allen recht machen zu können. Dazu gehört es, nicht jede Debatte der Regierungslogik unterzuordnen. So schwer das vielen in meiner Partei nach fast 20 Jahren Regierungsbeteiligung im Bund fällt. Sagen, was man will. Gestalten, was man kann – ohne die eigene Vision und die Haltung zu verraten.

Deshalb war es richtig, dass wir unsere Haltung zum Thema Rente vor dem Rentenkompromiss in der Bundesregierung deutlich gemacht haben. Unser Ziel ist eine stabile Rente über das Jahr 2040 hinaus. Weil es ein Versprechen des Staates sein muss, dass jeder, der jahrzehntelang gearbeitet hat, sich auf seinen Ruhestand freuen kann. Das ist unsere Überzeugung und die machen wir deutlich – auch wenn es viel Geld kosten wird und mit der Union aktuell nicht mehr drin ist als eine Garantie bis 2025.

Wir brauchen diese Klarheit bei allen Themen, damit deutlich wird, dass der Kompromiss nicht unser Ziel ist. Er ist höchstens ein politisches Mittel auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Am Anfang muss die Vision stehen.

Ich will ein Sozialsystem, das nicht von Misstrauen und Bürokratie geprägt ist, sondern Sicherheit und Unterstützung bietet. Dazu gehört, dass wir Anstrengungen zur Qualifizierung und Jobsuche erwarten und belohnen. Vor allem aber will ich dafür sorgen, dass kein einziges Kind in Deutschland in Armut aufwächst. Deshalb möchte ich, dass jedem Kind in Deutschland eine bedingungslose Grundversorgung zusteht, die weit über das heutige Kindergeld hinausgeht und allen Kindern die Chancen eröffnet, die ihnen viele Eltern heute aus unterschiedlichen Gründen nicht bieten können. Das ist mein Ziel und dafür brauchen wir Reformen auf dem Weg zu einem neuen Sozialstaat 2025, der sich den Bürgerinnen und Bürgern zuwendet, statt sie zu gängeln. Die SPD muss dafür Kapitel der Vergangenheit abschließen.

Ich will, dass Deutschland Vorreiter bei der Digitalisierung wird, auch wenn ich weiß, dass dadurch Jobs wegfallen oder sich verändern werden. Künstliche Intelligenz bietet enorme Chancen auf Wachstum und Arbeitsplätze. Dafür müssen wir Skepsis und Ablehnung ablegen. Ich will, dass die riesigen Unternehmensgewinne, die durch Automatisierung und Roboterisierung entstehen werden, der Gesellschaft zu Gute kommen. Zum Beispiel durch eine Besteuerung von Wertschöpfung durch Maschinen, eine andere Verteilung von Arbeitszeit und sogar Grundeinkommensmodelle, die für mehr Sicherheit und eine echte, partnerschaftliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen. Ich will, dass der Staat und die Unternehmen verpflichtet werden, einen wesentlichen Teil der Digitalisierungsgewinne in die Qualifizierung der Arbeitenden zu stecken, um sie fit zu machen für neue Jobs im IT-Sektor oder in sozialen Berufen, die hier in Deutschland gebraucht werden.

Autokonzerne verschlafen Zukunft der Mobilität

Ich will eine emissionsfreie Energieerzeugung. Ohne Kohle. Ich will diesen Wandel gemeinsam mit den betroffenen Menschen und Regionen organisieren. Durch viele neue Jobs im Bereich der erneuerbaren Energien und gezielte Förderung der vom Wandel betroffenen Regionen und ihren Arbeiterinnen und Arbeitern.

Ich will, dass die Chefs in den Autokonzernen endlich verstehen, dass Arbeitsplätze nicht vor allem durch CO2-Auflagen gefährdet sind, sondern weil diese Unternehmen die Zukunft der Mobilität verschlafen. Mein Ziel ist eine emissionsfreie Mobilität. Gleichzeitig sehe ich aber die Notwendigkeit, in der Zwischenzeit dafür zu sorgen, dass kein Dieselfahrer dafür bestraft wird, dass ihm jahrelang von den Konzernen etwas vorgemacht wurde.

Ich will, dass Deutschland Geflüchteten, die vor Krieg oder politischer Verfolgung fliehen, einen Zufluchtsort bietet. Ich will, dass wir Menschen, die nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten, zu forschen oder zu studieren, greifbare Perspektiven bieten und sie mit offenen Armen empfangen. Mein Ziel ist eine vielfältige und offene Gesellschaft. Und ich will gleichzeitig, dass der Staat das vernünftig organisiert und in Integration und Gemeinschaft investiert. Dazu gehört, schnell zu entscheiden, wer nicht hierbleiben kann, und das dann auch durchzusetzen.

Und ja, die SPD muss Verteilungsfragen endlich wieder viel entschlossener angehen. Wenn die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer größer werden, müssen wir die Superreichen viel stärker in die Verantwortung nehmen, als das bisher der Fall ist und über Investitionen aber auch Entlastungen bei den Einkommensschwachen für neue Spielräume sorgen. Die neue SPD muss mit ihrem Programm dafür sorgen, dass Aufstieg wieder zum Motor unserer Gesellschaft wird.

SPD muss die Pole der Gesellschaft wieder zusammenführen

Das sind einige Beispiele dafür, was die SPD tun muss, um die unterschiedlichen Pole dieser Gesellschaft wieder zusammenzuführen. Wenn gesellschaftliche Konflikte so aufgelöst werden, dass am Ende immer Gewinner und Verlierer übrig bleiben, sorgt das am Ende dafür, dass unsere Gesellschaft auseinander fällt. Mit dramatischen Folgen für alle. Keiner Partei wird es gelingen, 100 Prozent ihrer Politik durchzusetzen. Es darf in einer Demokratie nie darum gehen, andere Positionen komplett zu vernichten. Im Gegenteil: Die Kompromiss- und Konsensfähigkeit hat unser Land über Jahrzehnte stark gemacht.

Es bringt in dieser polarisierten Zeit wenig, recht zu haben oder sich im Recht zu fühlen. Es geht darum, in dieser Gesellschaft gemeinsam Fortschritt und Zusammenhalt zu organisieren. Das geht nur mit Vision und klarer Haltung.

Und dahin möchte ich die Sozialdemokratie verändern. Mit vielen, die das genauso sehen.

Der Namensbeitrag erschien am 30. Oktober 2018 im Nachrichtenportal t-online.de.