arrow-left arrow-right nav-arrow Login close contrast download easy-language Facebook Instagram Telegram logo-spe-klein Mail Menue Minus Plus print Search Sound target-blank X YouTube
Inhaltsbereich

1933 | Neubrandenburg

Foto: Teilnehmer bei der Großkundgebung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold am 26. Oktober 1924 in Potsdam.
Bundesarchiv

Der vergebliche Kampf der Sozialdemokraten in Neubrandenburg

Die Situation der SPD in beiden Mecklenburg ist zum Ende der Weimarer Republik hin schwierig. Ohne ein konsequentes agrarpolitisches Programm erreicht die SPD die verarmende Landbevölkerung nicht mehr. Zudem agitieren mit der KPD von links und der NSDAP von rechts zwei Parteien deutlich radikaler. 

Schikanen der Gutsbesitzer gegen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten erschweren die politische Arbeit. In Mecklenburg-Strelitz zieht die NSDAP infolge der Landtagswahl im März 1932 in die Landesregierung ein. Wie überall im Deutschen Reich zerreibt sich die SPD in dem Versuch, sozialdemokratische Politik getrieben von der radikalen Linken und gleichzeitig im Bündnis mit den alten Eliten zu verwirklichen. Nichtsdestotrotz bleibt man hoffnungsvoll – immerhin liegt der Stimmenanteil der SPD bei der Reichstagswahl im November 1932 in Mecklenburg-Strelitz mit 27,9% über dem Reichsdurchschnitt.

In Neubrandenburg stellt die NSDAP seit 1931 mit acht Sitzen die stärkste Fraktion. SPD und KPD erringen jeweils vier Sitze, die Bürgerlichen fünf. Weitere drei Stadtvertreter waren ebenfalls dem bürgerlichen Lager zuzuordnen. Die Stadt hat 1933 etwas über 15.000 Einwohnerinnen und Einwohner, darunter etwa 30 Jüdinnen und Juden. Im November 1942 hört die Neubrandenburger jüdische Gemeinde endgültig auf zu existieren – bis heute.

Das politische Klima in der Stadt ist insgesamt längst anti-sozialdemokratisch. Die "Neubrandenburger Zeitung" von Ende 1932 bis Frühling 1933 gibt beredtes Zeugnis von der allmählichen Übernahme des gesamten gesellschaftlichen und politischen Lebens in Neubrandenburg durch NSDAP und "Stahlhelm"  – eine demokratiefeindliche und antisemitische paramilitärische Organisation –, während über Aktivitäten der SPD kaum noch oder verächtlich berichtet wird. Der erste SA-Sturm in Mecklenburg-Strelitz entsteht in Neubrandenburg. SA und "Stahlhelm" führen Anfang 1933 immer wieder Umzüge und Aufmärsche in Neubrandenburg durch. Das "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold" kann dem Treiben entweder bereits nicht mehr entgegensetzen, oder die Zeitung berichtet nicht darüber.

Die "Neubrandenburger Zeitung" schreibt über eine Versammlung der SPD am 27. Februar 1933:

"In Sponholz war am 27. Februar eine sozialdemokratische Versammlung angesetzt, in der der Neubrandenburger Stadtverordnete Heynemann sprechen sollte. Um in der freien Aussprache sich mit der Sozialdemokratie auseinandersetzen zu können, war der Geschäftsführer des Landarbeiterbundes Hoffmann, erschienen. Etwas nach der festgesetzten Zeit erschien der sozialdemokratische Redner Heynemann, der sich eine Anzahl Reichsbannerleute zum persönlichen Schutz aus Neubrandenburg mitgebracht hatte. Als der Redner Hoffmann in dem Versammlungslokal sitzen sah, verließ er das Versammlungslokal, um zunächst mal draußen Kriegsrat abzuhalten, was man unternehmen sollte. Nachdem man reichlich zehn Minuten beraten hatte, betraten die Sozialdemokraten wieder das Versammlungslokal, eröffneten die Versammlung und gaben als Ergebnis der Beratung vor der Tür bekannt, daß nicht eine Wahlversammlung, sondern eine Wahlkundgebung stattfände. Hoffmann erklärte darauf, wenn keine Wahlversammlung und keine freie Aussprache stattfände, daß er dann kein Interesse für die Versammlung habe. Als Hoffmann das Versammlungslokal verließ, sagte Heynemann: "Sie können ja ruhig nach Hause gehen, aber die anderen bleiben alle hier." Daraufhin erhoben sich sämtliche Erschienen und verließen geschlossen das Versammlungslokal, so daß Heynemann mit seinem persönlichen Schutz wieder abziehen mußte."

Otto Heynemann ist Angestellter und lebt in der Ihlenfelder Vorstadt in Neubrandenburg. Vermutlich ist er erst in den 1920er Jahren in die Stadt gezogen, als im neu entstehenden Industriegebiet Arbeitskräfte gesucht werden. Er kandidiert 1932 sowohl für die Stadtvertretung als auch für den Landtag von Mecklenburg-Strelitz.  Diese Kandidaturen lassen auf ein ausgeprägtes Engagement für die Neubrandenburger SPD schließen. Das weitere Schicksal Otto Heynemanns ist nicht bekannt.

In Folge des Reichstagsbrands in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar kommt es auch in Neubrandenburg am 1. und 2. März 1933 zu Hausdurchsuchungen bei Mitgliedern von KPD und SPD, bei denen Zeitungen beschlagnahmt und erfolglos nach Waffen gesucht wird. Unmittelbare Konsequenzen haben zunächst die Kommunisten zu erleiden, deren Mitglieder Erich Schmidt, Kähler, Kalsow, Berthauer und Reckling am 2. März 1933 in "Schutzhaft" genommen werden. Die kommunistischen Landtagsabgeordneten in Neustrelitz werden ebenfalls verhaftet, die Landtagsabgeordneten der SPD am 3. März 1933 "beurlaubt". Kurz darauf erreicht die SPD in Neubrandenburg bei den Reichstagswahlen noch 2.345 Stimmen gegenüber 4.530 für die NSDAP.

Am 17. März 1933 wird das "Reichsbanner Schwarz-Gold-Rot" ebenso wie die "Eiserne Front" –  der Zusammenschluss von Gewerkschaften und SPD-nahen Organisationen zur Abwehr des Nationalsozialismus – in Mecklenburg-Strelitz verboten und ihr Vermögen eingezogen. Die Bilder des ersten Präsidenten des Deutschen Reichs, Friedrich Ebert, werden aus den Schulen und Gerichten entfernt.

Friedrich Schwarzer (1892-1959) ist seit 1920 SPD-Stadtverordneter und wird 1929 zum Stadtrat gewählt. Er läßt sich im April 1933 "auf eigenen Wunsch" beurlauben. Bis 1945 wird er mehrfach verhaftet. Im Juni 1945 wird er zum stellvertretenden Bürgermeister von Neubrandenburg ernannt. Schwarzer gründet im selben Monat die SPD in Neubrandenburg neu mit und folgt ihr 1946 in die SED. Von 1946-1950 ist er Bürgermeister, bevor er aus der SED ausgeschlossen und aus dem Amt entfernt wird.

Der SPD-Reichstagsabgeordnete Karl Raloff (1899-1976), der in den 1920er Jahren Redakteur der SPD-Zeitung "Volksstimme" in Neubrandenburg war, wird nach Dänemark in Sicherheit gebracht.

Der Neubrandenburger Kaufmann Jacob Rosenstein (geb. 1876) ist sowohl als Sozialdemokrat als auch als Jude gefährdet. 1919 gehörte er der Stadtvertretung als einer der ersten SPD-Abgeordneten in der Weimarer Republik an. Rosenstein flieht 1935 und überlebt so den nationalsozialistischen Terror. Sein weiterer Lebensweg ist nicht bekannt.

Neubrandenburg wird in den folgenden Jahren ein wichtiger Standort der Rüstungsindustrie. Tausende ZwangsarbeiterInnen, Kriegsgefangene und KZ-Gefangene müssen für den Eroberungswahnsinn der Nazis schuften.

Nach der Einnahme Neubrandenburgs durch die Rote Armee im April 1945 wird die Innenstadt durch Brandlegung größtenteils zerstört – darunter auch das Rathaus mitsamt großer Archivbestände. Infolgedessen geht auch das Wissen um sozialdemokratische Tradition in Neubrandenburg verloren. So erinnern bis heute weder Gedenksteine noch Straßennamen an diejenigen Neubrandenburger Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die 1919-1933 für kurze Zeit versuchten, die sozialdemokratische Idee Wirklichkeit werden zu lassen. Für eine Interimsperiode lebt diese Idee noch einmal 1945 auf, bevor die SPD in der SED aufgeht.

Erst im Oktober 1989 kann die SPD in Neubrandenburg wieder dauerhaft begründet werden. Hatte die Neubrandenburger SPD 1919 gehofft, die Benachteiligungen eines feudalistischen Systems beseitigen zu können, und 1946, die Stadt nach dem 2. Weltkrieg wieder mit aufzubauen, so tritt sie 1990 mit dem Versprechen an, "die Folgen der Mißwirtschaft von SED/PDS zu beseitigen und für Neubrandenburg Brücken in eine bessere Zukunft zu bauen." Ob uns dies völlig gelungen ist, sei dahingestellt. Aber zum ersten Mal in der Geschichte Neubrandenburgs kann die SPD kontinuierlich politisch tätig und wirksam sein. Auch deswegen verteidigt die SPD die demokratische Verfassung gegen alle erneuten Angriffe von rechts.