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1948/49 | Elisabeth Selbert

Foto: Elisabeth Selbert und ihr annotiertes Grundgesetz
Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung

Wie die Gleichberechtigung ins Grundgesetz kommt

1948/49 ist Elisabeth Selbert eine von nur vier Frauen im 65-köpfigen Parlamentarischen Rat. Hartnäckig setzt die Sozialdemokratin sich für die volle Gleichberechtigung von Mann und Frau ein.

Als Elisabeth Selbert im Rat keine Mehrheit findet, mobilisiert sie die weibliche Öffentlichkeit in den drei westdeutschen Besatzungszonen und Berlin. Unter dem Druck der Straße gibt die Männermehrheit im Rat nach. Artikel 3 des Grundgesetzes stellt fest: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt." Ein revolutionärer Satz, dem die Wirklichkeit noch immer nicht vollständig gerecht wird. Ein Satz, den es ohne Elisabeth Selbert nicht gäbe.

Den Eltern fehlt das Geld für die Schule

Als Martha Elisabeth Rohde wird die "Mutter der Gleichberechtigung" am 22. September 1896 in Kassel geboren. Die Familie ist arm. Elisabeth liest gern, aber Bücher sind teuer. Das Schulgeld fürs Mädchengymnasium fehlt. Elisabeth Rohde kommt zunächst über den Besuch einer Gewerbe- und Handelsschule nicht hinaus. Während des Ersten Weltkriegs ist sie arbeitslos. Erst als männliche Arbeitskräfte knapp werden, kommt sie als "Gehilfin" bei der Reichspost unter. Dort lernt sie 1918 Adam Selbert kennen.

Der Krieg ist verloren, der Kaiser "dankt ab", der Kasseler Oberbürgermeister Philipp Scheidemann ruft die Republik aus. Die Kasselerin Elisabeth Rohde heiratet (1920) den Buchdrucker und Sozialdemokraten Adam Selbert. Sie liest August Bebels Buch "Die Frau und der Sozialismus" und tritt, schon 1918, der SPD bei. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten setzen das allgemeine aktive und passive Wahlrecht für Frauen durch. Marie Juchacz hält als erste Frau überhaupt 1919 eine Rede im Reichstag.

Aus der Postgehilfin wird Frau Dr. iur.

Philipp Scheidemann ermuntert Elisabeth Selbert, für das Gemeindeparlament in Niederzwehren bei Kassel zu kandidieren. Aus der Postgehilfin wird eine Politikerin. 1920 nimmt Elisabeth Selbert an der ersten Reichsfrauenkonferenz der SPD in Kassel teil. Dort kritisiert sie die Gleichberechtigung der Frauen als nur "papieren".

1921 bringt sie ihr erstes Kind zur Welt, 1922 das zweite. 1925 beschließt die doppelte Mutter und Kommunalpolitikerin, das Abitur nachzuholen. Als fast 30-Jährige besteht sie die externe Prüfung an der Kasseler Luisenschule. Sie schreibt sich an der Universität Marburg für Rechts- und Staatswissenschaften ein. Sie ist dort die einzige Frau unter lauter männlichen Studenten.

Nach nur sechs Semestern besteht Elisabeth Selbert das erste Staatsexamen. Ihre Dissertation beschäftigt sich mit "Ehezerrüttung als Scheidungsgrund" und stellt damit eine Forderung, die in der Bundesrepublik erst in den 1970er Jahren eingelöst wird (unter dem sozialdemokratischen Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel). Einstweilen bleiben geschiedene Frauen nahezu rechtlos.

Überleben in der Nazizeit

Gleich 1933 werfen die Nazis Adam Selbert, weil er Sozialdemokrat ist, aus dem Amt des stellvertretenden Bürgermeisters von Niederzwehren. Sie sperren ihn als "Staatsfeind" ins KZ Breitenau. Elisabeth Selbert: "Mein Mann musste Steine klopfen, unten an der Fulda, mit einem Handwagen… und hatte blutige Hände, als ich ihn besuchte… Als Folge dieses Traumas litt er zeitlebens an einer schweren Diabetes."

Nach seiner Entlassung bleibt Adam Selbert arbeitslos und unter Beobachtung der Gestapo. Elisabeth Selbert ernährt als Rechtsanwältin die Familie – bis ihre Kanzlei beim großen Luftangriff auf Kassel am 22. Oktober 1943 zerstört wird.

Foto: Plakate aus dem Nachlass von Elisabeth Selbert
dpa

Nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands holen die US-amerikanischen Besatzer Elisabeth Selbert in die Politik zurück. In ihrer neu eröffneten Kanzlei gründet sich die örtliche SPD wieder. Elisabeth Selbert wird 1946 zur Stadtverordneten gewählt, später in den hessischen Landtag und in den SPD-Bezirksvorstand. Vor amerikanischen Militärgerichten tritt sie als Strafverteidigerin auf.

Als feststeht, dass Deutschland auf absehbare Zeit geteilt bleibt, müssen Verfassungen für die neuen Länder und für die Bundesrepublik entworfen werden. Elisabeth Selbert wird zu einer der wenigen "Mütter des Grundgesetzes". Auch an der hessischen Landesverfassung schreibt sie mit.

Die Mutter der Gleichberechtigung

Im Parlamentarischen Rat besteht sie auf der Formulierung "Männer und Frauen sind gleichberechtigt." Sie setzt sich gegen alle Widerstände durch – und ist später sehr enttäuscht, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit noch lange hinter der Formulierung des Artikels 3 des Grundgesetzes zurückbleibt.

In den frühen 1950er Jahren erarbeitet Elisabeth Selbert im Auftrag des SPD-Parteivorstandes "Vorschläge und Vorarbeiten für eine Familienrechtsreform". Damit legt sie entscheidende Grundlagen für die Reformpolitik der Großen und dann der sozialliberalen Koalition. Fortschritte, die sie noch erlebt.

Elisabeth Selbert stirbt am 9. Juni 1986, in Kassel, ihrer Heimatstadt, 21 Jahre nach ihrem Mann Adam. Sie ist fast 90 Jahre alt geworden.

Noch mit 85 Jahren hat Elisabeth Selbert als Anwältin gearbeitet. Mehrere Schulen tragen ihren Namen. Seit 1983 vergibt die Hessische Landesregierung den Elisabeth-Selbert-Preis – für "hervorragende Leistungen für die Verankerung und Weiterentwicklung von Chancengleichheit von Frauen und Männern".