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1963 | Rede in Tutzing

Foto: Willy Brandt und Egon Bahr bei einer Pressekonferenz am 17.12.1963 in Berlin
dpa

15. Juli 1963
Wandel durch Annäherung

Ein Sommertag am Starnberger See. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing hören eine Rede, die Geschichte macht.

Deutschland ist geteilt. Das SED-Regime hat mitten durch Berlin eine Mauer gezogen und lässt auf Geflüchtete schießen. Eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten erscheint in weiterer Ferne als das Alpenpanorama jenseits des Sees.

Egon Bahr ist 41 Jahre alt. Ein Jahrzehnt lang war er von Bonn aus Chefkommentator des RIAS Berlin. Zwischendurch, 1956, ist er als Journalist der SPD beigetreten. 1960 holt ihn der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, als Senatssprecher an die Spitze seines Presse- und Informationsamtes.

Wege zur Wiedervereinigung

Beide, Brandt und Bahr, nehmen an der Tutzinger Tagung teil. Es geht um Wege zur Wiedervereinigung. Die Hauptreden sind bereits gehalten worden. Bahr nimmt sich die Freiheit zu sagen, Brandts Auführungen zu ergänzen. "Einige Bemerkungen" nur wolle er machen – so kleidet er seinen mutigen Vorstoß in ein harmlos wirkendes Gewand – Bemerkungen "zur Anregung der Diskussion". 

Später wird Bahr von politischen Gegner*innen als Verharmloser des SED-Regimes verunglimpft, als einer, der heimlich gemeinsame Sache mit Ulbricht & Co. mache. Dessen Politik auf eine Anerkennung der DDR und der Spaltung Deutschlands hinauslaufe. Die Zuhörenden an diesem Julitag wissen es besser.

Bahr spricht klar und deutlich von den "Verbrechen" des "verhassten" Ulbricht-"Regimes" und von der "selbstverständlichen" Weigerung, "die Zone als einen selbstständigen Staat anzuerkennen". Nur: Das SED-Regime sei nicht zu stürzen, solange die Sowjetunion ihre schützende Hand darüber halte. Eine Hand in Gestalt von Panzern und "20 oder 22 gut ausgerüsteten Divisionen".

Weil "unsere Welt die bessere ist"

Der Weg zur Wiedervereinigung führe also über die Zustimmung der Sowjetunion. Diese Erkenntnis sei zwar "rasend unbequem und geht gegen unser Gefühl", sei aber logisch. Einstweilen müsse es also darum gehen, die "Zone" mit Zustimmung der Sowjets zu transformieren: "Wenn wir soweit wären, hätten wir einen großen Schritt zur Wiedervereinigung getan."

Bahr rät dazu, statt auf militärische Überlegenheit auf die Kraft der besseren Idee zu setzen:

"Das Vertrauen darauf, dass unsere Welt die bessere ist, die im friedlichen Sinn stärkere, die sich durchsetzen wird, macht den Versuch denkbar, sich selbst und die andere Seite zu öffnen und die bisherigen Befreiungsvorstellungen zurückzustellen ... Das klingt paradox, aber es eröffnet Aussichten, nachdem die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks nur zur Erstarrung des Status quo geführt hat ..."

Politik für die Menschen

"Wir haben gesagt, dass die Mauer ein Zeichen der Schwäche ist. Man könnte auch sagen, sie war ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebs des kommunistischen Regimes.

Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit zu nehmen, dass auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird … Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung."

Willy Brandt wird diese Politik ab 1969 konsequent betreiben. Egon Bahr ist dabei sein wichtigster Helfer. Von dessen Tutzinger "Bemerkungen" führt ein direkter Weg zum Aufstand der DDR-Bürger*innen 1989 und zum Fall der Mauer. Die Union wird diese Politik bis zum Ende der 1970er Jahre erbittert bekämpfen.

Brandts und Bahrs Ost-Politik gemäß der Formel 'Wandel durch Annäherung' bleibt Inspiration und Vorbild, wo immer auf der Welt martialische Grenzen, Denk- und Sprechverbote Menschen voneinander trennen. Das Leitmotiv dieser Politik kleidet Egon Bahr 1963 in diesen schlichten Satz: "Uns hat es zunächst um die Menschen zu gehen." 

Egon Bahr erinnerte sich 2013 im Interview mit der "Zeit" an die Tutzinger Tagung:

"Der Politische Club der Evangelischen Akademie in Tutzing hatte Brandt gebeten, eine Rede zu halten über seine Vorstellungen von einer neuen deutschen Außenpolitik. An dem Manuskript haben wir lange gearbeitet, das Manuskript ging immer wieder hin und her. Als wir fertig waren, rief mich der Direktor der Akademie an und fragte, ob ich für mich selbst noch einen kleinen Diskussionsbeitrag vorbereiten könnte. Ich war ziemlich leer und habe mir schließlich einen Punkt aus der fertigen Rede herausgenommen. Das, was für die beiden deutschen Staaten und ihr Verhältnis herauskommt. In diesem Text kam auch die Formulierung vom "Wandel durch Annäherung" vor, den mein Stellvertreter als Überschrift nahm. Im Flugzeug von Berlin nach München, auf dem Weg nach Tutzing, habe ich Brandt das Manuskript gezeigt. "In Ordnung", hat er gesagt. Na, und dann waren wir selbst am meisten davon überrascht, dass dieses kleine Apercu wie eine Bombe einschlug - und die große Rede von Brandt gar nicht richtig wahrgenommen wurde. Das war ungerecht, aber nicht mehr zu ändern."