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2013 | Parteitag in Leipzig

Foto: Sigmar Gabriel beendet den Bundesparteitag 2013 in Leipzig und ist am Rednerpult von Parteimitgliedern umgeben
dpa

"Ein Parteitag des Übergangs"

Bundesparteitag in Leipzig. Die SPD steckt den Rahmen  für eine Große Koalition ab – und öffnet sich für neue Bündnisse. Martin Schulz und Sigmar Gabriel rufen zum leidenschaftlichen Kampf um Europa auf

"Die Europäische Union ist in einem schlechten Zustand … ich will sie reformieren." Mit 97,9 % der abgegebenen Stimmen nominiert die SPD auf ihrem Bundesparteitag in Leipzig Martin Schulz als ihren Mann für Europa – und gibt ihm klare Aufträge mit.

Der Präsident des Europaparlaments wird sich bei der Europawahl im Mai 2014 als Spitzenkandidat aller europäischen Sozialdemokraten um das Amt des Kommissionspräsidenten bewerben - mit dem ehrgeizigen Anspruch, der europäischen Idee neues Leben einzuhauchen.

"Ich will Die EU entbürokratisieren, demokratisieren und sozial gerechter gestalten," ruft Schulz den 600 Delegierten und rund 2500 Gästen des Parteitags in einer umjubelten Rede zu. Von der EU, so wie sie ist, fühlten sich viele Bürger zu Recht "gehänselt, gegängelt und veralbert".  Was Wasser auf die Mühlen der "Ultranationalisten" sei.

"Neues Vertrauen für ein besseres Europa!"

Zuvor hat der italienische Ministerpräsident Enrico Letta die "Führung" der deutschen Sozialdemokratie auf dem Weg zu einem demokratischeren und föderaleren Europa eingefordert: "Wir wollen ein Europa der Völker, nicht der Populisten!"

Unter der Überschrift "Neues Vertrauen für ein besseres Europa" verlangt die SPD in einem umfänglichen Beschlusspapier nicht nur die Demokratisierung der EU, sondern ausdrücklich auch "einen grundsätzlichen Kurswechsel in der europäischen Flüchtlingspolitik".

Die EU sei eine Wertegemeinschaft. Das müsse auch in der Art und Weise erkennbar sein, wie Europa mit Menschen umgeht, die aus ihren Heimatländern fliehen und, oft unter Lebensgefahr, Schutz und eine neue Heimat in Europa suchen.

Eine werteorientierte Flüchtlingspolitik

"Europa ist ein Einwanderungskontinent" und brauche deshalb "ein legales Einwanderungssystem," beschließt der Parteitag. Eines, das "Grundrechte über Repression und Abschottung" stellt.

Wie sehr den Delegierten die Reform der EU-Flüchtlingspolitik am Herzen liegt, zeigt sich am zweiten Tag des Parteitags auch bei den Wahlen der stellvertretenden Parteivorsitzenden. Olaf Scholz, der als Hamburger Erster Bürgermeister für Abschiebungen von Asylbewerbern – gemäß geltendem Recht – verantwortlich ist, erhält mit nur 67,3 % das schlechteste Ergebnis. Thorsten Schäfer-Gümbel hingegen kommt auf stolze 88,9 %, Hannelore Kraft auf 85,6 %, Manuela Schwesig erhält 80,1 % und Aydan Özoguz 79,9 %. Es gab keine Gegenkandidaten und, mit der Wahl Thorsten Schäfer-Gümbels, nur einen Neuzugang in die engeren Parteiführung. Klaus Wowereit verzichtete auf eine Wiederwahl."

"Ehrliche" Wahlergebnisse

Zum ungekrönten Star der Wahlvorgänge avanciert der Kieler Regierungschef Torsten Albig: durch seine didaktisch sehr einfühlsame Vorstellung der elektronischen Wahlgeräte minimiert er nach und nach die Zahl der ungültig abgegebenen

Stimmen.Gleich am ersten Tag  wählen die Delegierten, noch ungeübt an den Geräten, Sigmar Gabriel mit 83,6 % erneut zum Vorsitzenden. Das ist weniger als vor zwei und vor vier Jahren. Beobachter deuten das Ergebnis als Denkzettel für den misslungenen Bundestagswahlkampf. Sigmar Gabriel nennt es "ehrlich".

Noch "ehrlicher" fallen die Wahlergebnisse der Generalsekretärin und der Schatzmeisterin aus. Andrea Nahles wird mit nur 67,2 % in ihrem Amt bestätigt, Barbara Hendricks kommt auf 79,5 %.

Nie wieder: "Erst das Land, dann die Partei!"

In einer von ihm selbst als "weniger mitreißend als nachdenklich" charakterisierten Rede hat Sigmar Gabriel  zuvor die "politische Verantwortung" für die Niederlage der SPD und ihres Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück auf sich allein zu nehmen versucht und die Gründe dafür schonungslos analysiert:

Der SPD schlage immer noch Misstrauen entgegen. Das sei nicht zuletzt eine Spätfolge der "alten Basta-Politik" und einer Haltung des "Erst das Land, dann die Partei". Nie wieder wolle er diesen Satz hören. Er sei grundfalsch, denn: "Was der SPD schadet, ist auch nicht gut für das Land."

Die SPD, so Gabriel weiter, werde oft "nicht mehr als Partei der kleinen Leute empfunden." Das sei verheerend. Diese "kulturelle Kluft" zwischen Partei und Volk wieder zu überwinden, sei "DIE Überlebensfrage der SPD". Gabriel: "Lasst uns wieder einladender werden…weniger Penthouse, mehr Mittelbau und Erdgeschoss!"

Wieder mehr Visionen wagen

Die Partei müsse sich politisch, programmatisch und personell erneuern. Nicht nur das. Sie müsse auch aufgeschlossen sein "für die Vielfalt des Lebens". Rund vier Wochen vor Willy Brandts 100. Geburtstag sagt Gabriel einer Politik des seelenlosen Pragmatismus den Kampf an, ganz in Willys Sinn: "Wer Visionen hat und darüber diskutieren will, der muss wieder zur SPD kommen."

Zum  Schluss seiner zwar nicht euphorisch beklatschten, aber aufmerksam angehörten Rede wandelt Gabriel den Slogan des Jubiläumsjahrs  ab: "Ein besseres Land kommt nicht vom Zuschauen". Die darin versteckte Botschaft: Wenn sie in der Großen Koalition etwas bewegen kann, darf die SPD sich einer Regierungsbeteiligung nicht verweigern.

Es ist eine Rede, die lange nachwirkt und sowohl im Plenum als vor allen Dingen auch "am Rand des Parteitags" heftig diskutiert wird. Tenor: Sigmar Gabriel habe Ansprüche formuliert, die von der Partei, so, wie sie ist, schwer zu erfüllen sind.

Was die Frage provoziert: Wandelt sich die Partei – oder scheitert Sigmar Gabriel? Vielleicht schon mit dem Mitgliedervotum zum Einstieg in eine Große Koalition?

Klare Bedingungen für ein Bündnis mit CDU und CSU

Was die SPD an ihrem Vorsitzenden hat, erkennen auch Zweifler am Samstag. Der Parteitag diskutiert über die Bedeutung gesunder Kommunen, da meldet sich Sigmar Gabriel überraschend erneut zu Wort – und hält aus dem Stegreif eine bewegende und mitreißende Rede.

Dies sei "ein Parteitag des Übergangs", sagt er und umreißt die Bedingungen für den Eintritt der SPD in eine Koalition mit der Union: "Uns gibt es nicht für ein paar Ministerposten." Die Koalitionsverhandlungen hätten nun lange genug gedauert: "Jetzt müsst Ihr liefern, liebe Leute von der Union". Und zwar:

  • den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro,
  • die Bekämpfung des Missbrauchs von Leih- und Zeitarbeit und Werkverträgen,
  • die Durchsetzung des Prinzips "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit",
  • die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren, also auch schon mit 63,
  • Investitionen in Bildung; in Kitas, Ganztagsschulen und Personal,
  • die Gleichstellung von Männern und Frauen; auf allen Ebenen der Gesellschaft,
  • ein "soziales Europa",
  • die Begrenzung des Rüstungsexports,
  • den Wiedereinstieg in das Programm Soziale Stadt; zugunsten gestärkter Kommunen,
  • die doppelte Staatsbürgerschaft.

"Dann müsst Ihr kämpfen!"

Ohne Erfüllung dieser Mindestbedingungen, so Gabriel unmissverständlich, werde es keine Große Koalition geben. Wenn sich die Union aber auf diese Bedingungen einlasse, dann sei es auch die Pflicht und Schuldigkeit der SPD, den Vertrag zu unterschreiben und in die Regierung zu gehen.

Das wolle er "am  Beispiel der Kommunalpolitik einmal gesagt haben": Man könne nicht die Rettung der Kommunen verlangen und sich drücken, wenn Rettung in Sicht ist.

Dies allen zögernden und zweifelnden Mitgliedern klipp und klar zu erklären, das sei nunmehr die Pflicht der gesamten Führung der Partei. Und dazu – "Wir alle sind die Führung der Partei!" - zähle jeder einzelne Delegierte. "Dann müsst Ihr kämpfen, dann dürft Ihr nicht zweifeln!" ruft Gabriel in den Saal. Und erntet diesmal donnernden Applaus.